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Unscharf wegen der Bewegungen und des spärlichen Lichts; das glänzende schwarze Haar in der Bewegung eingefangen; der Körper auf dem Bett so konturlos wie Rauch: ein Geist aus der Flasche, der sich seinem glücklichen Erlöser entgegenringelt. Ich ließ das Foto fallen, und es segelte zurück zu den anderen. Es mussten dreißig oder vierzig sein. Wie sie über den Boden verstreut dalagen, sahen sie aus wie ein Mosaik, dessen anonym ineinander greifende Einzelteile auf eine größere, unklare Bedeutung verwiesen - die über einem Stuhl im Hintergrund hängende Weste oder die wie ein schlechter Witz wirkende, stumpf glänzende Prothese. Der Vorstellungskraft blieb nur wenig überlassen: Sie hatten MacGillycuddy eine ziemliche Show geboten.
Aus dem kleinen Klo in der Ecke hörte ich Geräusche des Jammers. Ich stakste über die Bilder und klopfte an die Tür. »Bel?«
Würgegeräusche, sofort übertönt vom Spülen der Toilette. »Hau ab«, sagte eine schwache Stimme.
»Alles in Ordnung?«
»Nichts ist in Ordnung.Blöde Frage«, sagte die Stimme.
»Kommst du raus?«
Sie schien kurz darüber nachzudenken. »Nein«, sagte sie. »Ich komm nie mehr raus.«

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ieder Würgen. Ich drehte mich zu dem langen Garderobentisch um, dessen nackte Glühbirnen für niemanden mehr brannten, und schaute im Spiegel mein tumbes Gesicht an. Dann drehte ich einen der Klappstühle um und setzte mich. Kurz darauf erschien Mutter in der Tür, im Krankenhaushemd. »Wo ist deine Schwester?«, fragte sie gebieterisch.
Ich machte eine lethargische Handbewegung in Richtung der verschlossenen Tür. Mutter marschierte, anscheinend ohne die Fotografien unter ihren Füßen zu bemerken, darauf zu. Sie klopfte einmal und befahl Bel in einem Ton, mit dem man Metall hätte schneiden können, herauszukommen. Nach einer kurzen Pause drehte sich der Schlüssel im Schloss und Bel kam mit verschämtem und verheultem Gesicht heraus.
»Was denkst du dir eigentlich?« Mutter packte sie am Arm und zog sie Richtung Tür. »Du musst gleich auf die Bühne, also los!«
Doch Bel wehrte sich. Sie befreite ihren Arm aus der Umklammerung und wich in die Ecke zurück.
»Was ist?«, sagte Mutter sehr leise.
Bel versuchte zu sprechen, doch mehr als Gestammel brachte sie nicht heraus. Sie lief puterrot an und senkte den Kopf.
»Bel«, sagte Mutter. »Worum es sich auch immer handelt, das kann warten bis nachher. Ich werde nicht zulassen, dass du uns diesen Abend ruinierst. Ich werde es nicht zulassen, hast du mich verstanden?«
»Hast du das nicht gesehen?«, presste Bel hervor und zeigte auf den Boden. »Das da!«
»Ich sehe nur eins«, sagte Mutter mit jetzt lauterer Stimme. »Und zwar ein eingebildetes und verwirrtes Kind, das mit einem Anfall von Jähzorn alles gefährdet, was wir uns so hart erarbeitet haben É«
»Anfall von Jähzorn?« Zwei scharlachrote Punkte erschienen auf Bels Wangen.
»Genau das ist es.« Mutter legte nach. »Gut möglich, dass das deine Prinzipien verletzt, aber was man uns heute Abend anbietet, ist ein Rettungsanker - das ist die Chance nicht nur für die Theatergruppe, sondern auch für das Haus und für die Familie, wieder auf die Beine zu kommen. Amaurot bekommt wieder einen Namen, den man kennt und der Gewicht hat, und das hätte auch Vater gewollt É«
»Die Familie«, fiel Bel ihr ins Wort. »Welche Familie? Wie kannst du bloß immer so tun, als würde dir das irgendwas bedeuten, wo doch wirklich jeder weiß, dass du nur wieder zurück auf die Gesellschaftsseiten willst, damit die Leute dich wieder zu ihren Vernissagen einladen É«
»Christabel«, sagte Mutter mit gleichmäßiger, zischender Stimme. »Du hast ganz offensichtlich Probleme. Aber es gibt Möglichkeiten, wie wir das angehen können. Es gibt Ärzte É«
»É wenn du das hast, dann bist du blind gegenüber allem, was um dich herum vorgeht - und das war es auch, was Vater immer wollte, oder etwa nicht?«
Mit einer einzigen präzisen Bewegung schlug Mutter ihr ins Gesicht.
»Also wirklich!«, rief ich und sprang von meinem Klappstuhl auf. »Mutter!«
Ihr fuchsteufelswilder Gesichtsausdruck reichte aus, um mich augenblicklich erstarren zu lassen. Ihr Blick glich dem eines Wesens, das gerade dem Grab entstiegen war. »Das Stück«, sagte ich mit bittendem, Rückzug signalisierendem Unterton. »Ihr müsst auf die Bühne.«

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as brachte sie wieder zur Besinnung. Sie räusperte sich und strich ihr Krankenhaushemd glatt. Sie wandte sich noch einmal Bel zu, die ins Leere starrte und weniger geschockt aussah, als vielmehr den Eindruck machte, als hätte sie ein Offenbarungserlebnis gehabt. In einem Tonfall so kühl und klar wie Wasser sagte Mutter: »Charles hat Recht. Wir können diese Diskussion später fortsetzen. Einverstanden?«
Bel, auf deren Wange immer noch der dunkelrote Abdruck von Mutters Hand zu sehen war, nickte stumm.
»Gut«, sagte Mutter und streckte sich. »Los jetzt, du bist gleich dran. Charles, du kommst bitte mit.«

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ie nahm Bel am Ellbogen und geleitete sie über das Meer aus schwarzweißem Hochglanzfleisch zur Tür. MacGillycuddy saß immer noch am Fuß der Dienstmädchentreppe. Die beiden Frauen gingen wortlos an ihm vorbei und steuerten die Bühnenkulisse an. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Bevor ich jedoch den Mund aufmachen konnte, startete er eine lange Rechtfertigungsrede des Inhalts, dass er bloß das Werkzeug seiner Klienten sei, dass er nur getan habe, was man ihm aufgetragen habe, und dass er lediglich ein klein wenig Seelenfrieden beigesteuert habeÉ
»Seelenfrieden? Pornografische Fotos an ein unglückliches, verwirrtes Mädchen zu verkaufen, nennen Sie Seelenfrieden?«
»Sie wollte es ja so haben«, sagte MacGillycuddy quengelig. »Das war ihre Idee, nicht meine. Sie bittet mich, einen kleinen Job für sie zu erledigen. Ich soll ein paar von den alten Freundinnen von diesem Muppet anrufen und rausfinden, wie er so tickt. Das hab ich gemacht, und alle sind zufrieden. Zwei Wochen später ruft sie wieder an: Sie ist sich nicht sicher, sie glaubt, dass er diese kleine Flüchtlingslady knallt, sie ist außer sich, sie kann nicht mehr schlafen. Was hätte ich tun sollen? Ich bin der Mann, der die Fakten liefert. Hätte ich sie etwa wegschicken sollen?«
Plötzlich war ich viel zu erschöpft, um noch angemessen zornig zu werden. Ich schloss die Augen und presste die Hände gegen die Schläfen. »Verschwinden Sie, MacGillycuddy.«
»Ist nicht mein Fehler, dass sie genauso gestrickt ist wie Sie.« Er hob abwehrend die Hände. »Der gleiche Betonschädel. Ich hab ihr bloß die Fakten geliefert. Fakten sind Fakten, gibt kein Richtig oder Falsch. Man kann nicht mich dafür verantwortlich machen, wenn É«

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ch versuchte eine vorgetäuschte Attacke, doch er sprang wie eine Katze, die einem Stein ausweicht, zur Seite und machte sich in Richtung Hintertür davon. »Und wagen Sie es ja nicht, noch mal hier aufzutauchen!«, rief ich ihm hinterher. Dann ging ich zu den anderen, die nervös in der Kulisse standen. Der Rechtsanwalt und das wunderschöne Model waren wieder in der Küche. Sie hatten beschlossen, reinen Tisch zu machen und ihre Affäre zu offenbaren. Jetzt warteten sie auf Bels Rückkehr aus dem Krankenhaus, wo sie mittels der neuen Rampe Mutter besuchen konnte. Im Drehbuch hat die Beichte der beiden Bels Offenbarungserlebnis zur Folge, in dem sie erkennt, was für ein furchtbarer Mensch sie gewesen ist. Beseelt von Wiedergutmachungswillen beschließt sie, die revolutionäre, wenn auch potenziell tödliche neuen Heilmethode zu riskieren, was jedoch tragisch schief geht- sie stirbt, Harry und Mirela können heiraten. Doch keine Spur von Bel: Mirela hatte jetzt schon dreimal das Stichwort gesagt, und die beiden wurden langsam etwas unruhig.
»Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen«, sagte die am Tisch sitzende Mirela und schaute besorgt zur Bühnenseite.
»Wer weiß?«, improvisierte Harry. »Vielleicht hat der Gedanke, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, nicht dazu geführt, dass sie ihre Rolle in der Gesellschaft neu bewertet, sondern dazu, dass sie sich in einen Zustand der moralischen Feigheit zurückgezogen hat.« Oberlehrerhaft hob er den Finger. »In welchem Falle, Ann, es unsere Aufgabe wäre, sie davon zu überzeugen É«
Überzeugungsarbeit, die nicht mehr vonnöten war, denn in diesem Augenblick ging Bel auf die Bühne.
Das Publikum stöhnte auf.
»Ah, Mary«, stammelte Harry. »Wo ist dein Rollstuhl?«
Ohne ihm zu antworten, ging Bel quer über die Bühne und blieb hinter Mirela stehen, die regungslos dasaß und auf den Tisch schaute. Dann bückte sie sich vor und flüsterte ihr deutlich hörbar ins Ohr: »Kuckuck.«

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in oder zwei nervöse Lacher waren zu hören. Neben mir zischte Mutter etwas, das ich nicht verstand. Bel ging um den Tisch herum zu Harry, der, als wolle er sich gegen einen Schlag wappnen, mit leicht hochgezogenen Schultern am Bühnenrand stand. Um die beiden herum schien einen langen, gespannten Augenblick lang alles in Dunkelheit zu versinken. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.06.2006