25.05.2006
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Ich schenkte mir nach und trommelte mit den Fingern auf das Holz. Es musste an Harry liegen, welchen anderen Grund für ihr bizarres Benehmen konnte es sonst geben? Sie hatte ihr vermaledeites Theater, sie hatte ihre Hauptrolle, sie hatte das Haus voller Marxisten. Die einzige denkbare Erklärung war, dass ihre jüngste Liebelei auch schon wieder erledigt war. Das, sollte es zutreffen, wäre allerdings nicht ohne Beispiel. Sie hatte es bei ihren Liebesgeschichten immer so gehalten - verkehrt herum, meine ich: Sie stolperte über diese Trottel und verliebte sich in sie, ausschließlich weil sie in das unmögliche Gedankengebilde passten, an dem sie sich zu der Zeit gerade abarbeitete; ohne auch nur eine Sekunde nachgedacht zu haben, stürzte sie sich kopfüber hinein. Und wenn es dann schief ging - was es unweigerlich tat -, dann schob sie es auf mich und meine Einmischung. Tatsache war allerdings, dass Bel dringend jemanden brauchte, der sich einmischte. Mit dieser Art von Fahrlässigkeit kam sie vielleicht bei einem Charakter wie Frank durch, der sich erst mal setzen musste, wenn er zwei Dinge auf einmal bedenken sollte. Dieser Harry aber war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er war ein Intrigant und Heuchler, einer dieser hinterhältigen Typen, die sich abends in den Keller verkriechen, um sich eine neue Identität zusammenzuschustern. Aber was konnte ich, der ich Meilen entfernt in einem Slum festsaß, schon unternehmen? Wie konnte ich ihr von hier aus helfen?
Ein paar Tage nach meinem Besuch rief Mutter an und erzählte, dass der alte Thompson gestorben sei. Anscheinend war Olivier zum Einkaufen gegangen und hatte ihn versehentlich draußen auf der Veranda stehen lassen. Als er wieder nach Hause kam, habe der alte Mann steif in seinem Stuhl gesessen- »tiefgefroren wie ein Fischstäbchen«, wie sich Mutter bildkräftig ausdrückte. Olivier war ein Hysteriker. Drei Sanitäter hätten ihn vom Körper des Alten losreißen müssen, und sie hätten sich auch geweigert, ihn im Krankenwagen mitfahren zu lassen. Mutter sagte, dass er noch stundenlang weinend im Garten herumgelaufen sei und buchstäblich den Mond angeheult habe.
Das Angebot sei verlockend, antwortete ich, aber angesichts der Wendung, die unser letztes Treffen genommen habe, sei es wohl besser, ich würde Bel eine Zeit lang aus dem Weg gehen. »Sie kommt mir ein bisschen gereizt vor«, sagte ich.
M
»Du meinst nicht, sie könnte vielleicht É«
»Absolut nicht«, sagte Mutter mit fester Stimme.
Ich wünschte, ich wäre mir auch so sicher. Nach allem, was zu Hause vorgefallen war, fragte ich mich, ob Thompsons Tod nicht so eine Art böses Omen war. In den folgenden Tagen spürte ich die Last einer namenlosen Finsternis; und heute Abend bildete ich mir ein, dass der Wind Oliviers Todesgeheul hereinwehte.
Selbst die Fernsehnachrichten aus dieser Zeit schienen eine Tendenz zum Grotesken haben: die Leichen, die im Balkan unter der Erde lauerten; der stete Strom von grau gewandeten Politikern, die vor Tribunalen ihre Korruptheit offenbarten. Einmal, bei einer Live-Übertragung eines Tumults anlässlich eines Steuerberaterkongresses in Seattle, hätte ich schwören können, dass ich einen meiner Bauarbeiter gesehen hatte. Er hatte sich ein großes gelbes W auf die Stirn geklebt und lief buhend in der Gegend herum, verfolgt von vier Polizisten mit Gasmasken und Schlagstöcken.
E
»Gehst du heute Abend nicht raus, Charlie?«, fragte er.
»Was?«, sagte ich. »Übrigens, deine Krawatte hängt etwas schief, alter Junge.« Er trug eine von diesen Clipkrawatten, die er anscheinend nicht richtig eingeklinkt hatte.
»Ah ja, stimmt«, sagte er und lief purpurrot an. »Hab bloß gedacht, du gehst heute Abend raus, mit deinen Kumpels da aus Lettland.«
Anfang der Woche hatten wir in Veredelungsbereich B darüber geredet, ob wir nicht mal bei Bobo Karten spielen sollten. Schließlich hatte ich mich aber doch dazu entschlossen, zu Hause zu bleiben, ich war einfach zu deprimiert. Ich sagte ihm das und fügte hinzu, dass ich später noch die Kommode polieren wolle - falls ihn das interessiere.
»Ah ja, stimmt«, sagte er wieder. Er stand noch einen Augenblick sinnlos da und trottete dann zurück in die Küche. Ich dachte mir nichts weiter und schaute im Programmheft nach, was für geistlose Filme es heute im Fernsehen gab.
he got goyim (1992): Die wahre Geschichte eines
sittenstrengen New Yorker Rabbis, dessen Leben auf den
Kopf gestellt wird, als ihn seine Synagoge mit der
Aufgabe betraut, ein Basketballteam aus dem Ghetto zu trainieren.
»Laura!«, sagte ich. »Was für eine angenehme Überraschung.«
»Tut mir Leid, Charles!«, keuchte sie. »Ich vergesse einfach dauernd, dass du diese É« Sie wedelte erläuternd mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
»Aber das macht doch überhaupt nichts.« Ich half ihr auf die Beine und hielt ihr die Handtasche, während sie an ihrem Asthmainhalator nuckelte. »Frank und ich wollten einen Happen zusammen essen, vielleicht möchtest du ja auch É«
Sie nieste dankbar und duckte sich unter meinem Arm hindurch in die vielwinklige Wohnung. »Wow! Das ist ja wirklich É«
»Kafkaesk«, schlug ich vor.
»Genau, so irgendwie Laura-Ashley-mäßig.«
Ich nahm ihr den Mantel ab und fragte, was sie in diese gottverlassene Gegend verschlagen habe.
»Das war echt komisch«, sagte sie und lachte silbrig. »Neulich war ich gleich hier um die Ecke und wollte mir É Hallo, Frank, los, erzähl du.«
F
»Und da bist du!«, sagte ich. Lächelnd drehte Frank sich um und verschwand in den Rauchschwaden. »Entschuldige bitte, aber er ist nicht gerade der geborene Gastgeber. Du nimmst doch einen Drink, oder?«
Artikel vom 25.05.2006