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Mit einer Kommode im Haus war das Leben doch gleich nicht mehr ganz so trübe.
Ich schenkte mir nach und trommelte mit den Fingern auf das Holz. Es musste an Harry liegen, welchen anderen Grund für ihr bizarres Benehmen konnte es sonst geben? Sie hatte ihr vermaledeites Theater, sie hatte ihre Hauptrolle, sie hatte das Haus voller Marxisten. Die einzige denkbare Erklärung war, dass ihre jüngste Liebelei auch schon wieder erledigt war. Das, sollte es zutreffen, wäre allerdings nicht ohne Beispiel. Sie hatte es bei ihren Liebesgeschichten immer so gehalten - verkehrt herum, meine ich: Sie stolperte über diese Trottel und verliebte sich in sie, ausschließlich weil sie in das unmögliche Gedankengebilde passten, an dem sie sich zu der Zeit gerade abarbeitete; ohne auch nur eine Sekunde nachgedacht zu haben, stürzte sie sich kopfüber hinein. Und wenn es dann schief ging - was es unweigerlich tat -, dann schob sie es auf mich und meine Einmischung. Tatsache war allerdings, dass Bel dringend jemanden brauchte, der sich einmischte. Mit dieser Art von Fahrlässigkeit kam sie vielleicht bei einem Charakter wie Frank durch, der sich erst mal setzen musste, wenn er zwei Dinge auf einmal bedenken sollte. Dieser Harry aber war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er war ein Intrigant und Heuchler, einer dieser hinterhältigen Typen, die sich abends in den Keller verkriechen, um sich eine neue Identität zusammenzuschustern. Aber was konnte ich, der ich Meilen entfernt in einem Slum festsaß, schon unternehmen? Wie konnte ich ihr von hier aus helfen?
Ein paar Tage nach meinem Besuch rief Mutter an und erzählte, dass der alte Thompson gestorben sei. Anscheinend war Olivier zum Einkaufen gegangen und hatte ihn versehentlich draußen auf der Veranda stehen lassen. Als er wieder nach Hause kam, habe der alte Mann steif in seinem Stuhl gesessen- »tiefgefroren wie ein Fischstäbchen«, wie sich Mutter bildkräftig ausdrückte. Olivier war ein Hysteriker. Drei Sanitäter hätten ihn vom Körper des Alten losreißen müssen, und sie hätten sich auch geweigert, ihn im Krankenwagen mitfahren zu lassen. Mutter sagte, dass er noch stundenlang weinend im Garten herumgelaufen sei und buchstäblich den Mond angeheult habe.

Der eigentliche Grund ihres Anrufs war ein anderer. Sie fragte mich, ob ich in zwei Wochen Zeit hätte, um ihnen bei der Premiere der Rampe zu helfen. Sie befolgten Mirelas Plan einer speziellen einmaligen Aufführung, zu der potenzielle Investoren eingeladen wurden. Eine Fundraising-Veranstaltung in derart luxuriösem Rahmen erschien mir ziemlich paradox, aber Mutter erklärte mir, dass es allgemein bekannt sei, dass die Gutbetuchten am ehesten Geld herausrückten, wenn man sich den Anschein gab, als hätte man es gar nicht nötig. Für jeden, der bei den Vorbereitungen behilflich sei, sagte sie, gebe es Freikarten.
Das Angebot sei verlockend, antwortete ich, aber angesichts der Wendung, die unser letztes Treffen genommen habe, sei es wohl besser, ich würde Bel eine Zeit lang aus dem Weg gehen. »Sie kommt mir ein bisschen gereizt vor«, sagte ich.

M
utter wollte nichts davon hören. »Etwas verstimmt vielleicht, weil sie nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht«, sagte Mutter. »Du hast nicht das Geringste zu befürchten.«
»Du meinst nicht, sie könnte vielleicht É«
»Absolut nicht«, sagte Mutter mit fester Stimme.
Ich wünschte, ich wäre mir auch so sicher. Nach allem, was zu Hause vorgefallen war, fragte ich mich, ob Thompsons Tod nicht so eine Art böses Omen war. In den folgenden Tagen spürte ich die Last einer namenlosen Finsternis; und heute Abend bildete ich mir ein, dass der Wind Oliviers Todesgeheul hereinwehte.
Selbst die Fernsehnachrichten aus dieser Zeit schienen eine Tendenz zum Grotesken haben: die Leichen, die im Balkan unter der Erde lauerten; der stete Strom von grau gewandeten Politikern, die vor Tribunalen ihre Korruptheit offenbarten. Einmal, bei einer Live-Übertragung eines Tumults anlässlich eines Steuerberaterkongresses in Seattle, hätte ich schwören können, dass ich einen meiner Bauarbeiter gesehen hatte. Er hatte sich ein großes gelbes W auf die Stirn geklebt und lief buhend in der Gegend herum, verfolgt von vier Polizisten mit Gasmasken und Schlagstöcken.

E
ines Abends kam aus einer ziemlich unerwarteten Ecke die Lösung - obwohl die sich, wie die besten Lösungen immer, schon die ganze Zeit direkt vor meiner Nase befunden hatte. Frank war in der Küche und klapperte mit Kochtöpfen herum, Droyd kam der Meldepflicht bei seinem Bewährungshelfer nach, und ich saß wie immer nach der Arbeit im Sessel. Ich rauchte eine Pfeife, die in einem der Kartons gewesen war, die Frank mit nach Hause gebracht hatte, und dachte über das Pech nach, dass Bel von allen Schweinehunden auf der Welt gerade an Harry hängen bleiben musste. Kurz, es war ein Abend wie jeder andere, außer dass jemand Ordnung in den Abfall gebracht oder Frank in den letzten Tagen einen Käufer aufgetan haben musste, der vertrauensseliger gewesen war als seine sonstigen Kunden. Das Zimmer kam mir nämlich ungewöhnlich geräumig vor, und mir waren mehrere Abschnitte des Teppichs aufgefallen, von denen ich sicher war, dass ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Zudem war auf dem Tisch urplötzlich eine Vase mit frischen Blumen aufgetaucht. Der Fernseher war aus, stattdessen erstrahlte die Wohnung im Licht einer altmodischen Sturmlaterne, die an der Lampenhalterung an der Decke befestigt war. Und jetzt kam Frank herein, ging im Zimmer herum, hob mit leerem Gesichtsausdruck Dinge in die Höhe und schaute darunter. Das machte mich nach einer Weile ganz nervös, also fragte ich ihn, was er da tue.
»Gehst du heute Abend nicht raus, Charlie?«, fragte er.
»Was?«, sagte ich. »Übrigens, deine Krawatte hängt etwas schief, alter Junge.« Er trug eine von diesen Clipkrawatten, die er anscheinend nicht richtig eingeklinkt hatte.
»Ah ja, stimmt«, sagte er und lief purpurrot an. »Hab bloß gedacht, du gehst heute Abend raus, mit deinen Kumpels da aus Lettland.«
Anfang der Woche hatten wir in Veredelungsbereich B darüber geredet, ob wir nicht mal bei Bobo Karten spielen sollten. Schließlich hatte ich mich aber doch dazu entschlossen, zu Hause zu bleiben, ich war einfach zu deprimiert. Ich sagte ihm das und fügte hinzu, dass ich später noch die Kommode polieren wolle - falls ihn das interessiere.
»Ah ja, stimmt«, sagte er wieder. Er stand noch einen Augenblick sinnlos da und trottete dann zurück in die Küche. Ich dachte mir nichts weiter und schaute im Programmheft nach, was für geistlose Filme es heute im Fernsehen gab.
he got goyim (1992): Die wahre Geschichte eines
sittenstrengen New Yorker Rabbis, dessen Leben auf den
Kopf gestellt wird, als ihn seine Synagoge mit der
Aufgabe betraut, ein Basketballteam aus dem Ghetto zu trainieren.

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Ich erwartete niemanden. Ich rief Frank, der aber nicht antwortete. Ich stellte mir vor, dass ihn das, was diesen ungesunden Brandgeruch in der Küche produzierte, auf Trab hielt. Grummelnd stand ich auf und öffnete die Tür, wo ich von einem vertrauten, ohrenbetäubenden Schrei begrüßt wurde.
»Laura!«, sagte ich. »Was für eine angenehme Überraschung.«
»Tut mir Leid, Charles!«, keuchte sie. »Ich vergesse einfach dauernd, dass du diese É« Sie wedelte erläuternd mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
»Aber das macht doch überhaupt nichts.« Ich half ihr auf die Beine und hielt ihr die Handtasche, während sie an ihrem Asthmainhalator nuckelte. »Frank und ich wollten einen Happen zusammen essen, vielleicht möchtest du ja auch É«
Sie nieste dankbar und duckte sich unter meinem Arm hindurch in die vielwinklige Wohnung. »Wow! Das ist ja wirklich É«
»Kafkaesk«, schlug ich vor.
»Genau, so irgendwie Laura-Ashley-mäßig.«
Ich nahm ihr den Mantel ab und fragte, was sie in diese gottverlassene Gegend verschlagen habe.
»Das war echt komisch«, sagte sie und lachte silbrig. »Neulich war ich gleich hier um die Ecke und wollte mir É Hallo, Frank, los, erzähl du.«

F
rank stand in der Küchentür, seine Lippen zierte ein starres Lächeln von unbestimmter Bedeutung. Die Schürze war verschwunden, die Schamesröte auch. Stattdessen hatte sein Gesicht eine aschgraue Farbe angenommen, die möglicherweise - die Küche hinter ihm war kaum noch zu erkennen - Folge eingeatmeten Qualms war. Nachdem klar war, dass Frank sich für den Augenblick auf sein verwirrendes Lächeln beschränken würde, fing Laura an zu kichern und sagte, dass Frank ihr vor ein paar Tagen zufällig über den Weg gelaufen sei, als sie sich ihre neue Wohnung ansehen wollte, und dass er gesagt habe, sie solle doch mal vorbeischauen. »Und da bin ich!«, quiekte sie und schüttelte ihr Haar.
»Und da bist du!«, sagte ich. Lächelnd drehte Frank sich um und verschwand in den Rauchschwaden. »Entschuldige bitte, aber er ist nicht gerade der geborene Gastgeber. Du nimmst doch einen Drink, oder?«



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.05.2006