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Master Charles!«
Die Fragen mussten noch etwas zurückstehen, denn hier war Mrs P, die mit einer Platte voller köstlich aussehender Käsehäppchen am Fuß der Treppe stand.
»Ah, Mrs P, bravo!«
»O Gott!« Bel ging hinter mir die Treppe hinunter.
»Was haben wir denn da?« Ich inspizierte die Platte. »Brie É Gorgonzola É Edamer É eine wahrlich internationale Auswahl.«
»Mrs P, eigentlich sollten sie nicht ihn bedienen«, sagte Bel tadelnd.
»Oho, was ist denn das?«
»Ich habe gefunden noch ein kleines Stück Roquefort, Master Charles«, sagte Mrs P verschämt glucksend.
»In der Tat!« Wie ein Prospektor einen Goldnugget hielt ich das kleine, zarte morceau in die Höhe.
»Mrs P!« Bel stampfte gebieterisch mit dem Fuß auf den Boden. »Er lebt nicht mehr hier, verstehen Sie?«
»Ja, aber Miss Bel, wenn Master Charles doch Hunger hat É«
»Genau, Bel, wenn Master Charles doch Hunger hat É«
Bel biss die Zähne zusammen. »Und noch etwas - ich habe gedacht, wir wären uns einig gewesen, diesen Kram mit Master Charles und Miss Bel bleiben zu lassen.«
»Dann also Genossin Bel.« Ich kicherte mit dem Mund voll Roquefort.
Bel atmete zischend aus. »Jetzt reichtÕs! Charles, wenn du jetzt bitte gehen würdest?«
Ich schaute sie an. »He?«
»Raus hier. Sofort.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Und ob das mein Ernst ist«, sagte sie. Es war ihr Ernst. Ihre Laune hatte sich so schnell verändert, wie eine Wolke sich vor die Sonne schob. Die ängstliche, besorgte Bel war binnen weniger Augenblicke der eisernen, unerschütterlichen Bel gewichen, die mit donnergleichem Gestus zur Tür zeigte. »Wenn du nur vorbeikommst, um niederzumachen, was wir auf die Beine gestellt haben, dann haust du besser wieder ab.«
»Kann ich wenigstens den Käse fertig essen?«
»Nein«, sagte sie und riss mir die Platte aus der Hand. »Raus!«
In der Hoffnung auf ein gewisses Maß an Zurechnungsfähigkeit oder Verstand schaute ich Mrs P an. Doch deren Augen waren diskret zu Boden gerichtet. »Nun gut«, sagte ich und richtete mich zu voller Größe auf. »Mrs P, meinen Mantel, bitte.«
Mrs P ging meinen Mantel holen. Der tiefschwarze Blick, mit dem Bel mich weiter fixierte, hätte gut in den Ring der Nibelungen gepasst. Ich hütete mich davor, Streit anzufangen. Stattdessen wartete ich auf meinen Mantel, schritt dann, vorbei an dem mir bösartig zuzwinkernden Rollstuhl, ohne Tamtam oder auch nur einen einzigen Blick zurück, in würdiger Haltung durch die Halle und zur Tür hinaus.
Doch dann blieb ich stehen. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, und eine Zeit lang stand ich noch auf der obersten Stufe. Im Osten murmelte unsichtbar die See, der Nebel wirbelte in Fetzen über den Rasen, und ich stand da und starrte ins Nichts.

Nachdem ihre Tochter Daria im Heim verschwunden war, begann Genes langer Absturz. Ihre Ehe mit Cassini war endgültig gescheitert. Zahlreiche bemerkenswerte Männer machten ihr den Hof und eroberten sie. John F Kennedy besuchte sie auf dem Set von Dragonwyck. Er war gerade aus dem Südpazifik zurückgekehrt, noch mager nach den Aufenthalten in diversen Marinekrankenhäusern, wo er nach der Versenkung des von ihm befehligten Schnellboots PT 109 behandelt worden war. Er stand kurz vor seiner Kandidatur für den Kongress. Sie verliebte sich sofort in ihn. Sie hatten beide irische Vorfahren, und ihre erste Verabredung hatten sie am St. PatrickÕs Day, als er sie in New York zum Lunch ausführte. JFK trug einen neuen Hut, den er später am Abend in einer Bar liegen ließ. So sehr die Hutmacher der Nation auch bettelten, er trug nie wieder einen, und so begann der Hut langsam aus dem amerikanischen Leben zu verschwinden.

M
it Unterbrechungen traf sie ihn fast ein Jahr lang, bis er ihr schließlich sagte - beiläufig, während sie beim Lunch auf Freunde warteten -, dass er sie nie würde heiraten können. Sie hätte es wissen müssen. Er hatte an seine politische Karriere zu denken, und seine Mutter hätte einer Ehe mit einer geschiedenen Frau, die noch dazu Schauspielerin und Episkopalistin war, nie zugestimmt. Sie suchte Trost in einer sich lang hinziehenden, absurden Affäre mit Aly Khan, dem Sohn des Aga Khan, den sie während der Dreharbeiten zu Way of a Gaucho in Argentinien kennen gelernt hatte. Er war gerade von Rita Hayworth geschieden worden, und mit ihm tauchte sie in das stürmische Glitzerleben des Jetset ein, mit Poloturnieren, Kreuzfahrten, Partys mit Picasso an der Riviera- ein Leben des Müßiggangs im grellen Licht der Medien und Klatschspalten.
Schwer zu sagen, wann genau Genes Leben auseinander zu brechen begann. Am Tag ihrer Ankunft in Hollywood hatte sie Magenkrämpfe bekommen, die erst wieder verschwanden, als sie vierzehn Jahre später Hollywood endültig den Rücken kehrte. Während der Arbeiten zu ihrem vierten Film, Belle Starr, litt sie unter unerklärlichen Augenschmerzen. Die angeschwollenen Augen brannten so stark, dass die Dreharbeiten für mehrere Tage unterbrochen werden mussten. (Cassini besuchte sie in ihrem Wohnwagen, küsste sie auf die grässlich entzündeten Augenlider und versicherte ihr, dass sie für ihn immer noch wunderschön sei; damals sei sie sich zum ersten Mal sicher gewesen, sagte sie später, dass er sie wirklich liebte.) Die Menschen, die sie gut kannten, wussten, dass die Beziehung zu Aly Khan ein Symptom für ihren aus dem Lot geratenen Geisteszustand war.

S
ie hatte zunehmend Schwierigkeiten, ihren Text zu behalten. Das hatte es früher nie gegeben. Sie hatte sich nie Illusionen über ihr Schauspieltalent gemacht, aber ihren Text hatte sie immer beherrscht. Sie behauptete sogar, dass sie sich am wohlsten fühle, wenn sie eine Rolle spiele, dass ihre Probleme erst dann anfingen, wenn sie sie selbst sein müsse. Am Set war sie jetzt aggressiv und rechthaberisch. Ihre Stimmung schwankte heftig, von langen Spannen totaler Lethargie bis zu kurzen Anfällen hyperrealer Bewusstseinsschärfe; einmal sagte sie, sie habe in einer Glühbirne Gott gesehen.
Ihr letzter Film vor dem Zusammenbruch war The Left Hand of God mit Humphrey Bogart. Bogeys Schwester war geisteskrank gewesen; er kannte die Anzeichen. Er sagte den Studios, dass Gene Hilfe brauche. Sie versicherten ihm, dass sie eine so altgediente Schauspielerin wie Gene Tierney nie fallen lassen würden - nicht bei einem Film, der so teuer sei wie dieser.
Es war Bogeys Liebenswürdigkeit, die sie durch den Film trug. Ohne dass jemand davon wusste, litt er damals selbst schon unheilbar an Krebs. Später sagte sie, dass sie die Dreharbeiten als einen Stummfilm in Erinnerung habe: ohne Geräusche, ohne Worte. Aber sie habe sich die ganze Zeit selbst sehen können, erzählte sie den Ärzten, als schwebe sie außerhalb ihres Körpers und beobachte sich aus weiter Ferne.


Elf
E
s waren nicht die Predigten, die mich beunruhigten. Man lebte nicht mehr als zwanzig Jahre mit Bel zusammen, ohne sich daran zu gewöhnen, dass man von Zeit zu Zeit eine Predigt ertragen musste. Auch an die Verbannung aus Amaurot gewöhnte ich mich allmählich.
»Aber sie hat mich um Hilfe gebeten. Bel fragt mich sonst nie um Hilfe. In all den Jahren hat sie mich nicht ein einziges Mal um Hilfe oder Rat gebeten. Und wenn es nur darum ging, ihr dabei zu helfen, die Puppenküche aufzubauenÉ« Ich schwenkte mein Glas hin und her und schaute düster in den Strudel der Flüssigkeit. »Irgendwas ist da im Busch, das weiß ich. Und es hat was mit diesem Mistkerl Harry zu tun.«
»Schwätzer«, lautete Franks Kommentar von der Couch.
»Wenn er nur ein Schwätzer wäre«, sagte ich. »Der ist Schauspieler. Ziemlich schlechte Aussichten. Wenn du mich fragst - einem Schauspieler würde ich nicht so weit trauen, wie ich ihn werfen kann. Du brauchst dir doch bloß die Tatsachen anzuschauen. Tatsache ist: Die beiden kennen sich seit vier Jahren ohne auch nur das leiseste Anzeichen einer Romanze; dann nimmt diese Theatergeschichte Gestalt an, und er steht mit dem Drehbuch auf der Matte; und plötzlich ist alles Doris Day und singender Wind in den Hochspannungsleitungen, Mutter frisst ihm aus der Hand, und er markiert den Chef von Amaurot.« Ich ging zur Küchentür. »Ich bitte dich, eine Rolle, die er ihr auf den Leib geschrieben hat.«
»Eines Tages«, sagte der die Decke anstarrende Frank. »Eines Tages ist er fällig.«

W
enn sie nur nicht so abartig naiv wäre«, sagte ich ärgerlich. »Das elementare Problem mit Bel ist, dass sie derart naiv ist, dass sie sich selbst für so was von ausgebufft hält. Jemanden wie sie dürfte man nicht mal auf tausend Meilen an einen Lumpen wie Harry ranlassen. Verdammt, was habe ich mir bloß dabei gedacht, sie allein da draußen zu lassen? Wie konnte ich sie nur dieser falschen Schlange in die Hände fallen lassen?«
»Schlangen haben keine Hände, Charlie.«
»Halt den Mund, Frank, sei so gut.« Ich ging zurück zur Schlafzimmerkommode, die Frank in einem Müllcontainer gefunden hatte. Ich hatte das ramponierte Stück einigermaßen wieder auf Hochglanz gebracht und Frank überredet, es nicht zu verkaufen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.05.2006