23.05.2006
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»Was riecht da, Charles?«
»Wie, was riecht da?«, sagte ich. »Lenk nicht vom Thema ab.«
»Es riecht penetrant nach Marzipan«, sagte sie schnüffelnd.
»Ich rieche nichts.«
»Das kommt von dir.«
»Ach das«, sagte ich. »Das kommt von den Christstollen.«
»Christstollen?«
»Der Geruch geht einfach nicht weg«, sagte ich bekümmert. »Nicht mal beim Duschen.«
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»Das ist nicht lustig«, sagte ich nachdrücklich. »Für euch in eurem Elfenbeinturm, mit euren Theaterstücken ist ja alles bestens. Aber wir armen Trottel in den Schützengräben müssen uns mit solchen Sachen jeden Tag herumschlagen. In Wahrheit sind umherstreifende Hunde nur die Spitze des Eisbergs.«
»Dass ich den Tag erlebe, an dem du mir sagst, ich würde im Elfenbeinturm leben, das hätte ich nie gedacht«, sagte Bel glucksend und massierte sich den Bauch.
»Aber es stimmt«, sagte ich scheinheilig. Ich ließ das Abkommen erst mal beiseite, weil ich meine Chance auf Rache für all die Moralpredigten erkannte, die sie mir über die Jahre gehalten hatten. »Für euch ist das alles ziemlich einfach. Aber für den arbeitenden Menschen ist das kein Zuckerschlecken, das kann ich dir sagen. Vor allem, wenn man sich als Erstes, kaum hat man die Tür hinter sich zugemacht, von Mutter anhören muss, wie erfrischend das alles ist. Also ehrlich, wenn man ihr so zuhört, dann könnte man glauben, dass die verdammte Welt so was wie ein exklusiver Tennisclub ist, wo man lernt, was man mit welcher Gabel isst, und wie man an seiner Rückhand feilt É«
»Vielleicht solltest du ein Stück schreiben«, spöttelte Bel, während sie in ihrer Unterwäscheschublade herumkramte.
»Ich sollte ihr mal Bonetown zeigen«, sagte ich. »Mal sehen, was sie sagt, wenn sich ihr einfacher Mann von der Straße mit ihrer Handtasche aus dem Staub macht É«
»Jetzt mach aber mal halblang! Ich bin in Bonetown gewesen, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Sie nahm einen Slip aus der Schublade, durchquerte das Zimmer und baute sich vor mir auf. »Wie kommt es eigentlich, Charles, dass du jedes Mal, sogar jetzt noch, wo du gar nicht mehr hier wohnst, gerade dann in meinem Zimmer bist, wenn ich mich umziehen will?«
»Schon gut, schon gut.« Ich zeigte mich einsichtig, zog mich auf den Flur zurück und schloss die Tür hinter mir. Einen Augenblick lang schaute ich geistesabwesend die Kartons an. Dann drehte ich mich um und machte die Tür einen Spalt weit wieder auf. »Es ist übrigens wirklich so schlimm. Dieses ganze Getue in Harrys Stück, die fröhlichen Armen, das Salz der Erde und diese Sprüche, das sind doch alles Märchen. So eine Bande von zügellosen Drückebergern und Tagedieben hast du überhaupt noch nie gesehen. Die demolieren, saufen und kotzen dir vor die Haustür, das ist alles, was die tun É«
»Dann musst du dich ja wie zu Hause fühlen«, lautete ihre Antwort. Dann hörte ich das Klicken einer Haarspange.
»Vielleicht sollte ich wirklich ein Stück schreiben«, brummte ich. »Damit ihr Typen in euren Elfenbeintürmen mal ein bisschen aufgerüttelt werdet.« Mit lauterer Stimme fügte ich hinzu: »Und diesem Scharlatan würde ich das eine oder andere unter die Nase reiben!«
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»So wie er heute aussieht, würde man das allerdings kaum vermuten«, sagte ich und legte schützend eine Hand über meine Augen, um nicht ihre entblößten Beine ansehen zu müssen. »Er brettert mit Vaters Mercedes rum, aufgetakelt wie ein Landedelmann, als würde ihm das Haus gehören É«
»Das ist sein Kostüm, du Idiot, für eine Szene, die wir nachher proben. Außerdem habe ich ihm erlaubt, mit dem vergammelten Wagen zu fahren, wenn er Lust dazu hat. Herrgott, seit zwei Jahren hat kein Mensch die Kiste auch nur angeschaut É« Sie hörte auf zu reden, lehnte sich müde an den Türpfosten und rieb sich mit dem Handballen die Augen. »Das ist wirklich absurd, Charles. Ich werde jetzt nicht mit dir darüber streiten, wer von euch beiden abgehobener ist, du oder Harry É«
»Natürlich nicht, weil ich nämlich gewinnen würde«, sagte ich.
Wütend schlug sie die Tür zu. Kurz darauf ging sie wieder auf. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte sie, während sie ihre Jeans hochzog und zuknöpfte. »Wenn es nach dir ginge, wäre das Leben ein einziges endloses Frühstück im Freien - Wein, Amuse gueules, sich räkelnde nackte Frauen. Und wenn es dann nicht so läuft É«
»Spielst du auf Manets Frühstück im Freien an?«
»Ja natürlich Manet, was sonst? Und wenn es dann nicht so läuft, dann wirfst du einfach die Arme in die Luft und denkst, das reicht dann schon É«
»Nun ja, irgendwas muss das Leben ja schließlich sein«, sagte ich milde. Tatsächlich erschien mir der Gedanke an ein endloses Frühstück im Freien ziemlich faszinierend. »Ich meine, ich muss mich in dem verdammten Leben ja einrichten.«
»Das ist genau der Punkt, Charles«, sagte sie und wedelte zornig mit einer Sandale. »Du glaubst, dass du es dir nur für dich allein da einrichten kannst. Und dann erzählst du mir auch noch, dass ich in einem Elfenbeinturm lebe, während du selbst den Elfenbeinturm, nämlich dieses beschissene Haus hier, mit dir herumschleppst, in deinem Innern. Du lässt keinen anderen rein, und du hast keinen Schimmer davon, wie das Leben für die Leute draußen aussieht. Du jammerst, weil du arbeiten musst, aber wenigstens hast du Arbeit. Hast du jemals daran gedacht, wie das für Vuk und Zoran ist, die gar nicht arbeiten dürfen? Hast du jemals daran gedacht, was das für sie bedeutet, Tag ein, Tag aus hier herumzusitzen, was da mit ihrer Würde passiert?«
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»Und die Menschen in Bonetown - was ist mit denen? Die sind alle in dieses Land gekommen, weil sie ein besseres Leben für sich wollten. Für sie ist das die Hoffnung, für sie ist das Over the Rainbow.«
»Tja, die sollten mal ein ernstes Wörtchen mit ihrem Reisebüro reden«, sagte ich. In derselben Sekunde stieß Bel mich zur Seite und stürmte Richtung Treppe.
»Halt, jetzt warte doch, das war ein Witz É«
In der Mitte der Treppe holte ich sie ein und packte sie am Ellbogen. Widerwillig drehte sie sich um, und erstaunt sah ich, dass ihr Tränen in den Augen standen.
»Das war ein Witz«, sagte ich noch einmal.
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Sie schaute mir mit leuchtendem, tadelndem Blick in die Augen. Der geheimnisvoll glänzende Anhänger bewegte sich zwischen ihren Fingern, als wollte er mir etwas mitteilen. Ich erkannte, dass das keine ihrer üblichen bombastischen Predigten war, dass hier mehr zur Debatte stand als meine Faulheit oder Harrys Stücke. Ich dachte daran, was Mutter mir vorhin gesagt hatte. Stimmte hier wirklich etwas nicht? Und flehte sie mich an, ihr zu helfen?
Artikel vom 23.05.2006