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Merkel setzt auf langen Atem

Bundeskanzlerin hält am Ziel einer europäischen Verfassung fest

Berlin (dpa). Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will zur Rettung der EU-Verfassung »jetzt keinen Schnellschuss« wagen. In einer Rede zur Lage Europas kündigte die CDU-Vorsitzende gestern in Berlin aber an, sie halte am Ziel einer europäischen Verfassung fest und wolle in nächster Zukunft nach einem »geeigneten Zeitpunkt zum Handeln« suchen.

Insgesamt sprach Merkel sich für eine Stärkung der EU aus, ohne die die europäischen Länder im globalen Wettbewerb nicht bestehen könnten. Als Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte kommenden Jahres kündigte Merkel eine verstärkte Konzentration Europas auf Forschung und Innovation sowie Entbürokratisierung an.
Ein Jahr nach dem Scheitern der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden räumte Merkel ein, dass die Zukunft dieser rechtlichen Basis für die Europäische Union unsicher sei. Sie zeigte sich aber überzeugt, »dass Europa sich eine Verfasstheit geben muss«. Es müsse eine Verständigung über die Grundwerte erzielt werden. Die Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedsländern müssten neu geregelt werden.
Außerdem sollten die EU-Institutionen selbst reformiert werden. Ohne eine solche Reform würde auf Grundlage der bestehenden Regelungen die Situation eintreten, dass verschiedene große Länder - wie Deutschland - eines Tages nicht mehr in der Kommission vertreten sein könnten. »Das schmerzt mich.«
Auf einem hochkarätig besetzten Europaforum des Westdeutschen Rundfunks sagte die CDU-Vorsitzende gestern, die Möglichkeiten müssten weiter ausgelotet werden. Nähere Details nannte sie nicht. Die Bundeskanzlerin kündigte an, die Bundesregierung werde während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft dem Thema hohe Bedeutung zumessen. EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) verlangte von den europäischen Staat- und Regierungschefs mehr Führungskraft. »Große Hoffnungen« lägen dabei auf Merkel.
Kurz vor ihrer Regierungserklärung zu Europa morgen im Bundestag verlangte die Kanzlerin auch die Weiterentwicklung der EU-Position zu Beitrittswünschen weiterer Staaten wie Kroatien, Serbien-Montenegro, Albanien und Mazedonien, aber auch der Ukraine und der Türkei. Jede Erweiterung stehe in einem Spannungsverhältnis zu einer vertieften Integration Europas, sagte die Kanzlerin. Die EU müsse erklären, wo die Grenzen Europas lägen.
Damit werde manchen Ländern gesagt werden müssen, dass sie in nächster Zeit keine EU-Vollmitglieder werden könnten. Umso wichtiger sei, dass die EU eine Nachbarschaftspolitik entwickle und den beitrittswilligen Staaten »ein anspruchsvolles Angebot« unterbreiten könne.
Angela Merkel befürwortete - auch mit Blick auf das rasante Wachstum in China oder Indien - den Bereich Forschung und Entwicklung in der EU zu stärken. Europäische Forschungsinstitutionen müssten streng nach ihrer Leistungsfähigkeit Zuschüsse bekommen. Die Interessen der jeweiligen Staaten müssten dabei zurückstehen.
In der EU müsse es unter den Unternehmen »europäische Champions« geben können. Die Kanzlerin sprach damit indirekt jüngste Tendenzen in Frankreich und Spanien an, einheimische Unternehmen vor Übernahmen durch Firmen aus anderen EU-Länder besonders zu schützen. Mit Blick auf den Bürokratieabbau sagte sie: »Weniger Europa kann mehr Europa sein.« Regulierungen in der EU, die nicht mehr sinnvoll sind, müssten gestrichen werden.
Merkel traf sich am Rande des Forums auch mit dem polnischen Ministerpräsidenten Kazimierz Marcinkiewicz. Am Abend war zudem eine Begegnung mit dem finnischen Regierungschef Matti Vanhanen geplant. Finnland übernimmt vor Deutschland im zweiten Halbjahr 2006 den EU-Ratsvorsitz.

Artikel vom 10.05.2006