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Augenblicklich überlief es mich eiskalt. »Was? Der ist hier?«
»Ich hab ihn von der Bühne aus gesehen«, sagte Bel. »Irgendwo da drüben.«
»Aber was macht er hier? Du hast ihn ja wohl nicht eingeladen, oder?«
»Ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen, Charles. Such ihn und schick ihn hinter die Bühne.«
»Hat das nicht bis hinterher Zeit?«
»Nein«, sagte sie. »Auf keinen Fall.«
»Moment noch, wie soll ich denn É« Aber sie war schon weg.
Ich schaute Frank an. »Hast du MacGillycuddy reingelassen?«
»Was?«
»Schon gut.«
Auf der Bühne schritt die Handlung voran. Harry befand sich in einem Gerichtssaal und machte einem Burschen mit Perücke Vorhaltungen. »Sir, ich entziehe Ihnen das Wort«, sagte die Perücke. »Eine derartige Insubordination ist mir noch nie untergekommen.«
»M?«, rief ich leise, während ich durch den dunklen Gang schlich. »M?«
»Ruhe!«, zischten einige Zuschauer, einer versuchte mir gegen das Bein zu boxen.

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as war absurd. Es war zu dunkel, um irgendein Gesicht erkennen zu können. Bel musste sich das eingebildet haben. Nur um sicherzugehen, wollte ich trotzdem noch Mrs P fragen, ob ihr irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Ich ging ins Musikzimmer, und dort sah ich ihn: auf einem Barhocker, der, als ich vor ein paar Minuten die Bar verlassen hatte, unbesetzt gewesen war. Er stützte sich auf die Theke und trank ein Glas Milch.
»Sie«, sagte ich.
»Ah, Sie sind es«, sagte er und bedachte mich mit einem hinterhältigen Grinsen - zweifellos in der Hoffnung, mich so von dem abzulenken, was er gerade in ein langes braunes Kuvert zurückschob und unter seinem Pullover verschwinden ließ.
»Bel will Sie sprechen«, sagte ich.
»Ja, ja«, sagte MacGillycuddy seufzend. »Hab ich mir schon gedacht.« Er piekste sich eine Olive aus dem Schüsselchen, das neben seinem Ellbogen stand, und erhob sich schwerfällig. Schnell packte ich seinen Arm. »Nicht so hastig«, sagte ich.
MacGillycuddy schaute mich mit leicht amüsiertem Gesichtsausdruck an.
»Ich will wissen, was mit meiner Schwester los ist«, sagte ich. Er lächelte sanft und bog dann, einen nach dem anderen, meine Finger von seinem Handgelenk.
»Reden Sie, verdammt!«, sagte ich keuchend vor Schmerz. »Und erzählen Sie mir keinen Quatsch von wegen Vertraulichkeit, MacGillycuddy. Sie würden eine Vertraulichkeit nicht erkennen, wenn sie sich an Sie anschleichen und Ihnen ganz vertraulich ins Ohr flüstern würde É«
»Wissen Sie, ich habe nie verstanden, warum die Leute so wild auf dieses ganze Theatergedöns sind«, sagte MacGillycuddy nachdenklich, während er behutsam meinen Zeigefinger und dann den Mittelfinger zurückbog. »Jeder tut so, als wär er ein anderer, und dann bringen sie alles durcheinander, bis man nicht mehr weiß, worumÕs am Anfang überhaupt ging. Eine nette Dokumentation, okay, jederzeit. Oder was über Geschichte, einverstanden. Die Fakten, MaÕam, bitte nur die Fakten.«
»Was, zum Teufel, reden Sie da?«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen, während sich meine Augen langsam mit Tränen füllten.
»Ah ja.« Er trat einen Schritt zur Seite und rieb sich geistesabwesend die befreite Hand. »Steckt sicher jede Menge Geschichte in dem alten Kasten hier, was?« Dann wandte er mir den Rücken zu und schlurfte träge über das gewienerte Parkett in die Halle. »Sie wissen doch, wie das ist mit Geschichte, oder C?« Er blieb kurz stehen und begutachtete Vaters Porträt. »Sie wiederholt sich.«
»Was meinen Sie? Was geht hier vor?«
MacGillycuddy lutschte nur an seinen Zähnen und verschwand aus meinem Blickfeld. Aus der Halle schaute Vater mit unergründlichen Augen auf mich herab; die schmalen Lippen fest verschlossen, als wolle er sein Urteil bis in alle Ewigkeit für sich behalten. Wie in Trance drehte ich mich um und stolperte zurück in den Theaterraum.
»Wo warst du, Charlie?« Frank beugte sich zu mir herüber. »Du hast was Höllisches verpasst. Der Richter hat gesagt, dass man keine Rampe ins Krankenhaus reinbauen kann, weil das so ein besonderes historisches Gebäude ist, in das man keine neuen Sachen reinbauen darf, und dann hat Harry weitergemacht mit seiner großen Rede und gesagt, wenn einer die Stufen des Gesetzes nicht hochkommt, dann muss eben das Gesetz runterkommen zu ihm.«
»Oh«, sagte ich und spürte ein nagendes Gefühl in der Magengrube, als ich die Figuren auf der Bühne betrachtete.
»Donnerwetter!« Der Richter ließ seinen Hammer mit aller Macht niedersausen. »Sie können hier nicht einfach reinhüpfen und zweihundert Jahre Rechtsprechung auf den Kopf stellen! Es gibt Verfahrensregeln für solche Fälle, Rechtswege É«
»Meine Mandantin pfeift auf Ihre Rechtswege!«, rief Jack Reynolds und krempelte die Ärmel auf. »Und wissen Sie auch, warum? Weil sich meine Mandantin dieses Gewäsch nun schon ihr ganzes Leben lang anhören muss?« Ein Raunen ging durch die Gerichtssaalkulisse. »Jawohl, Gewäsch!«, wiederholte er. »Das ganze Leben schiebt man sie jetzt auf ÝRechtswegenÜ herum, die andere Leute ihr vorgeschrieben haben. Sie sollte doch froh sein darüber, dass man sie schiebt, genau das denken Sie doch! Sie sollte froh sein, dass überhaupt jemand da ist, der sie schiebt! Sie sitzt ja im Rollstuhl! Sie ist ja ein Krüppel!«

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iesmal griffen die Wellen der Erregung aufs Publikum über und übertönten sogar kurz den hämmernden Richter, der brüllte: »Ruhe! Ruhe! Bei Gott, ich verlange Achtung für dieses Gericht, und wenn ich herunterkommen und sie Ihnen selbst beibringen muss.«
»Genau das denken Sie doch, oder?«, brüllte Harry zurück. »Das denken Sie doch alle, warum sagen Sie es dann nicht? Ein Krüppel!« Er schwang seinen Arm herum und zeigte mit dem Finger auf Bel, die blass in ihrer Ecke saß und in die Höhle der dunklen Kulisse starrte, wo sicher schon MacGillycuddy mit dem langen braunen Kuvert auf sie wartete É »Und was machen Sie mit diesen Menschen? Sie stecken sie in hübsche kleine Schubladen mit hübschen kleinen Etiketten, damit Sie nicht mehr über sie nachdenken müssen! Das ist Ihr System! Das sind Ihre ÝVerfahrensregelnÜ! Aber ich sage Ihnen, die Mühlen werden anfangen zu mahlen, ob Ihnen das gefällt oder nicht, die Mühlen der Gerechtigkeit, die Mühlen des Schicksals É«
»Das muss man ihm lassen, Charlie«, flüsterte Frank. »Er ist vielleicht Õne Schwuchtel, aber er ist ein höllischer Anwalt, dieser Harry. Ist doch klar, dass Mirela auf den steht.«
Ich sagte nichts, ich kämpfte mit den bunten, vor meinen Augen herumschwirrenden Pünktchen und mit der Horrorvorstellung, dass die Worte, die die Schauspieler auf der Bühne sprachen, nicht mehr länger zu dem Stück gehörten, sondern zu einer dunkleren Sphäre darunter, einer Sphäre, die sich ausdehnte und außer auf uns auch auf die Wände, die Decke, die Grundmauern übergriff É

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etzt waren Harry und Mirela allein in Harrys Zimmer. »Nein, nein, nein!«, schluchzte sie. »Wir dürfen ihr nichts davon sagen; sie darf das nie erfahren. Gestern Nacht war ein Fehler - ein wunderschöner, ein berauschender Fehler, aber ein Fehler, der sich nie wiederholen darf.«
»Oh, Ann«, sagte Harry verzweifelt. »Begreifst du denn nicht? Es war nicht Mary, die ich liebte, es war ihr Fall. Es war die Chance, eine Lanze zu brechen für unsere körperlich herausgeforderten Mitmenschen, die Gelegenheit, der Sache der Freiheit zu dienen- darin hatte ich mich verliebt. Aber meine Liebe für dich, die gilt nur dir allein - nicht nur deiner Schönheit und viel versprechenden Modelkarriere, sondern weil du so wahrhaftig bist, weil du eine Seele und ein Herz hast, die Mary in sich noch finden mussÉ«
»Was ist, Charlie?«, flüsterte Frank. »Musst du aufs Klo?«
»Aber sie liebt dich«, sagte Mirela unter Tränen und klammerte sich an sein Revers.
»Nein«, sagte Harry. »Mary hat nie gelernt zu lieben, sie hat sich in das Schneckenhaus ihres Rollstuhls verkrochen. Aber die letzten Wochen der Gerichtsverhandlung haben sie verändert. Wir haben sie auf die Rampe der Selbsterkenntnis geführt. Vielleicht tut sie jetzt den entscheidenden Schritt hin zur Erlösung, vielleicht überwindet sie jetzt die Barriere.« Er strich ihr übers Haar, und sie legte ihr tränennasses Gesicht auf sein Halstuch. Ich sprang von meinem Stuhl auf und stürzte aus dem Saal.

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acGillycuddy saß auf der untersten Stufe der Dienstmädchentreppe und bog sich aus einem Zahnstocher eine Art Tier zurecht. Bevor er noch den Mund aufmachen konnte, war ich schon an ihm vorbei.
Der Boden der leeren Schauspielergarderobe war von Wand zu Wand übersät mit Fotografien: Schwarzeißfotos auf Hochglanzpapier, die etwa so groß wie Schreibmaschinenseiten waren und ziemlich professionell aussahen. Ich hob eins auf. Mein Zimmer. An der Wand hing ein altes Poster, das Harry nicht abgenommen hatte: Jimmy Stewart küsst Donna Reed in ItÕs A Wonderful Life. Laut Datum unten rechts in den frühen Morgenstunden aufgenommen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.06.2006