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Reinhard Marx

»Mithelfen, dass sich Europa nicht zu einem Kontinent entwickelt, den allein das Geld regiert.«

Leitartikel
Renovabis in Osteuropa

Rühren an der sozialen Frage


Von Reinhard Brockmann
Das Erschrecken über die katastrophalen Zustände in rumänischen Kinderheimen Anfang der 90er Jahre ist unvergessen. Auch eineinhalb Jahrzehnte später irritieren hin und wieder noch Meldungen, wonach es Behinderten dort heute kaum besser geht.
Aber was wissen wir wirklich über die soziale Hinterlassenschaft des ehemaligen Ostblocks? Und, was geht uns das eigentlich an, wo neureiche Russen und EU-kundige Subventionsabgreifer den Weg an die westlichen Fleischtöpfe gefunden haben?
Ernsthafte Antworten auf Fragen zum Veränderungsprozess in Osteuropa sind kaum gefragt. Dabei hat die mehr oder weniger gelungene Demokratisierung zwischen Tirana, Riga und Kiew mitnichten alle Völker zu Wendegewinnern und die Altkader zu Verlierern gemacht.
Renovabis, das katholische Hilfswerk für Osteuropa, zieht zum diesjährigen Pfingstfest eine wenig schmeichelhafte Bilanz. Die Zahl der extrem Armen, die über eine Kaufkraft von weniger als einem Dollar verfügen, hat sich von sieben auf 17 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Verlierer sind auch die gottesfürchtigen Arbeiter der Danziger Leninwerft, die 1980 den Wandel vorantrieben. An ihren Werkbänken stehen heute sogar nordkoreanische Arbeitssklaven für drei Dollar Taschengeld am Tag.
Das ursprünglich zur Missionierung atheistischer Länder ins Leben gerufene Projekt stellt sich heute wie kaum eine andere kirchliche Stelle der sozialen Fragen. Dabei ist Renovabis über alle Zweifel erhaben, auch wenn manche Berichte so klingen, als sei altkommunistische Restauration am Werk. Es ist der rigorose Blick allein auf den Menschen, der nicht außer acht lässt, dass mit jedem Aufstieg neuer Kräfte andere auf der Strecke blieben.
»Wir können mithelfen, dass sich Europa nicht einfach zu einem Kontinent entwickelt, der vom Geld regiert wird, der Arm und Reich auseinander treibt.« Der, der das sagt, ist nicht der letzte Fußkranke der sozialistischen Völkerwanderung, sondern Bischof von Trier, Reinhard Marx. Der Ex-Paderborner sieht gerade in Osteuropa ein Gebiet, auf dem Christen »die Idee sozialer Gerechtigkeit in ökumenischer Gemeinschaft vorantreiben« sollten: Es gehe um mehr, als demjenigen, der unter die Räuber gefallen ist, von Jerusalem nach Jericho zu helfen. Es gehe auch darum, die Wege von Jerusalem nach Jericho sicherer zu machen, damit weniger unter die Räuber fallen, predigt Marx.
Renovabis betrachtet die globale Jobwanderung vom Westen über Osteuropa bis Asien nicht per se als Teufelswerk. Vielmehr wird gefragt, welche Wohlstandsgewinne an den Stationen hängen bleiben. Christliche Gerechtigkeit geht dabei so weit anzuerkennen, dass hierzulande Abstriche hinnehmbar sind, wenn etwa Rumänien soziale Sicherheit hinzugewinnt. Das Heilsversprechen der Kirche ist säkular: Sie dringt radikal auf soziale Marktwirtschaft - zum Wohle der Menschen.

Artikel vom 11.05.2006