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Thomas Nitzschke

»Wir sind sehr froh, am Leben zu sein, was für uns nicht selbstverständlich ist.«

Leitartikel
Menschenraub im Irak

Geiseln den Abgründen entkommen


Von Reinhard Brockmann
Gottlob, René Bräunlich und Thomas Nitzschke sind körperlich unversehrt zurück in Deutschland. Das Leben der beiden Irak-Geiseln aus Sachsen, das fast schon verloren schien, ist gerettet.
Sie wurden entführt, obwohl sie das kriegszerstörte Land aufbauen wollten, in einer Kaserne übernachteten und ihre Firma nicht unerfahren im Irak-Geschäft ist.
Was immer die beiden Deutschen dennoch beim Selbstschutz falsch gemacht haben - es spielt keine Rolle mehr. Sie sind frei, und Deutschland atmet auf.
Sparen wir uns auch die kleinkrämerische Debatte, ob deutsche Steuergelder dafür herhalten müssen, wenn andernorts Dinge geschehen, die uns schier unvorstellbar sind.
Auch das Ɗbizarre Verhalten und die spleenige Persönlichkeit einer Susanne Osthoff, die viele Jahre zwischen Euphrat und Tigris gelebt, geforscht und geholfen hat, sind für den Einsatz eines Staates zum Wohl seiner Bürger unerheblich. Und wenn jetzt überall von einer »regelrechten Entführungsindustrie im Irak« die Rede ist, kann das gerade kein Beleg dafür sein, dass Krisenstäbe und deutsche Gelder das kommerzielle Kidnapping erst ermöglichten.
Nein, nicht die bislang betroffenen wenigen Deutschen, nicht die übrigen Europäer, nicht einmal US-Bürger sind Hauptopfer und wichtigste Einnahmequelle der Entführungsmafia. Die mit Abstand größte Gruppe von Opfern stellen die Iraker selbst.
Womöglich tausende Einheimische sind seit 2003 entführt, getötet oder gegen Zahlungen ihrer Angehörigen wieder freigelassen worden. Fast wöchentlich wird ein Christ aus der katholischen St. Raphaels-Gemeinde in Bagdader Einkaufsviertel Karada entführt - und gegen Bargeld irgendwann wieder laufengelassen. Auch Muslime werden auf offener Straße aus ihren Fahrzeugen gezerrt und weggeschafft. Sie zu entführen ist gefährlicher, weil die Täter es anschließend mit deren Clan zu tun bekommen.
Augenzeugenberichte für den fast alltäglichen Menschenraub gibt es immer wieder, Filmaufnahmen allerdings ganz selten. Deshalb existiert im Westen wohl auch kein klares Bewusstsein für das wahre Geschehen in einem Land, in dem Krieg herrscht und die Befreier vollauf mit ihrem Selbstschutz beschäftigt sind.
Berlin hat politische Konzessionen vermeiden können und unterstützt den demokratischen Irak auch künftig. Das ist gut, aber selbst für die andere Gruppe, die politischen Entführer aus dem irakischen Widerstand, ohne Belang. Dort finden sich immer mehr Mitglieder der alten irakischen Armee und der Baath-Partei zusammen. Diese Gruppe ist aktiver denn je, kann sich mittlerweile sogar eine Pressesprecherin leisten. Diese Nada al Ruba'j behauptet, selbst Islamisten machten mittlerweile bei den (einst so gottlosen) arabischen Internationalisten mit.
Für Bräunlich und Nitzschke ist das Thema ausgestanden, nicht für unsere Außenpolitik. Ihr hat das Drama den Blick dafür geschärft, was wirklich los ist im Irak.

Artikel vom 04.05.2006