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»Ich denke, also bin ich«
Innovation und Stillstand: Wie Forscher versuchen, das lückenhafte Testament des Neandertalers zu deuten
Die erkenntnistheoretische Frage, wann ein Mensch ein Mensch ist, beantwortete der Philosoph René Descartes im Jahr 1641 mit seinem berühmten: »Cogito ergo sum«. Eine ernstzunehmende Fraktion der Forscher führt heute gute Gründe dafür an, dass der Neandertaler »ein kompletter Mensch« war; verstandesbegabt mit einer Wahrnehmung des eigenen Ichs.
Vor 150 Jahren fanden Steinbrucharbeiter im Neanderthal bei Mettmann einen Haufen Knochen - den Neandertaler. Der Urmensch war mit mit einem Alter von 42 000 Jahren bereits einer der letzten seiner Art. Vor rund 200 000 Jahren trat er auf den Plan, vor etwa 30 000 Jahren verlieren sich seine Spuren. Und Archäologen wie Anthropologen weltweit bewegt die Frage nach dem Warum, denn das Testament des europäischen Urmenschen ist bis heute schwer zu deuten.
Die ersten unserer Art, die Homo sapiens, so eine Theorie, der viele Forscher anhängen, sollen den europäischen Bruder verdrängt haben. Vor etwa 40 000 Jahren kamen sie aus Afrika. Beide Homo-Arten haben also bis zu 10 000 Jahre nebeneinander gelebt - und sind sich höchstwahrscheinlich begegnet.
Der Homo sapiens hat diese Begegnung überlebt und entwickelte sich in rasanter Geschwindigkeit weiter. Der moderne Mensch, die Krone der Schöpfung, und Homo neanderthalensis, der Verlierer der Evolution? Längst widerlegt, winkt Prof. Gerd-Christian Weniger, Direktor des Neanderthal Museums in Mettmann, ab: »Ich gehe davon aus, dass der Neandertaler genau das gekonnt hat, was der Homo sapiens auch konnte. Das waren keine Halbmenschen, keine Primitiven, sondern richtig komplette Menschen.« Sie jagten große Tiere, konnten Feuer machen, haben Kleidung, Hütten, Schmuck und Waffen hergestellt, ihre Toten bestattet und mit Farben gearbeitet. »Diese Entwicklungen wären ohne Sprache und Kommunikation nicht möglich gewesen.«
Gerd-Christian Weniger nähert sich seiner Hypothese über den Vergleich mit modernen Nomaden-Völkern: »Wenn man sich die Reliktpopulationen von Jägern und Sammlern in den Zivilisations-Randgebieten wie Wüste und Arktis anschaut, dann stellt man fest, dass sie eine sehr einheitliche Konstruktion aufweisen. Kleine Gruppen, die hochmobil sind, 15 bis 25 Leute vielleicht, das sind Konstanten, die überall auf der Welt zu beobachten sind, genau so bei den Inuit wie bei den Buschmännern.
Archäologische Spuren bestätigen uns, dass es bei den Neandertalern nicht anders gewesen ist.« Gerd-Christian Weniger setzt auf diesen Vergleich, denn: »Über Sozialverhalten, Emotionalität und Gruppenstruktur sagen uns archäologische Funde herzlich wenig.«
Auf handfeste Fakten setzt Hansjürgen Müller-Beck, emeritierter Professor der Universität Tübingen und Steinzeit-Historiker. Müller-Beck ist Experte für Steingeräte, für Faustkeile, Speerspitzen und andere Werkzeuge und Waffen. Auch für ihn sind Stärke, Talent und Anpassungsfähigkeit des Neandertalers unbestritten: »Keiner hat sich derart kalte Lebensbedingungen angetan wie der Neandertaler zum Beispiel in Salzgitter-Lebenstedt, wo wir einen Fundort haben. In einer Tundra-Landschaft, ähnlich der im heutigen Südgrönland, waren die Neandertaler über eine lange Zeit eine sehr erfolgreiche Gruppe, deren Technik nicht nur lange bestanden hat, sondern sich auch weiter entwickelt hat.«
Was aber geschah wirklich, als Homo sapiens und Homo neanderthalensis aufeinandertrafen? »Der Homo sapiens ist nicht wie Columbus vom Schiff gesprungen und hat den Neandertaler ausgerottet«, sagt Museumsdirektor Weniger. »Vermutlich haben sie den jeweils anderen gar nicht als andersartig erkannt. Vor diesem Hintergrund ist eine Vermischung wahrscheinlich. Sex ist das, was den Menschen am stärksten bewegt. Der Neandertaler ist in uns.« Eine genetisch relevante Vermischung hat es dennoch nicht gegeben, das zeigten jüngst Untersuchungen des Molekulargenetikers Svante Pääbo.
Gerd-Christian Weniger beschreibt einen weiteren Faktor, der zum Verschwinden des Neandertalers beigetragen hat: »Vor etwa 45 000 Jahren begann eine Phase mit vielen Klimawandeln kurz nacheinander. Der Großvater sitzt noch in Niedersachsen, während der Enkel sich schon ins Badische zurückziehen muss. Riesige Eisberge haben sich über den Nordatlantik ausgebreitet und das Klima auch hier radikal verändert. Der Neandertaler ist immer häufiger ein Opfer seiner Umwelt geworden. Gleichzeitig sind in den Warmphasen immer mehr Homo sapiens von Afrika eingesickert. Die hatten dort ein Nachschub-Zentrum, das der Neandertaler nicht hatte.«
Zur gleichen Zeit setzte sich beim Homo sapiens der Innovationsschub, der mit der Eroberung neuer Lebensräume begonnen hatte, fort. Einen »Wandel technologischer Art« sowie »Veränderungen im Verhalten der Menschen« wie die »Anlage komplexerer Wohnbehausungen« und »deutlich gesteigerte räumliche Mobilität«, so fasst Bärbel Auffermann, stellvertretende Leiterin des Neanderthal Museums in ihrem Buch »Die Neandertaler« neue Erkenntnisse zusammen. Man könnte sagen: Der Homo sapiens war in dieser Zeit in Top-Form.
Gerd-Christian Weniger sieht diese Entwicklung verknüpft mit der des modernen Menschen: »Der Neandertaler ist das beste Beispiel dafür, dass wir Menschen eine Entwicklungsgeschichte durchgemacht haben. Und er erinnert uns daran, dass wir als Menschen endlich sind.«
Der Neandertaler war nicht der Verlierer der Evolution. Er hat seine Umwelt beherrscht, sein Alltagsleben perfekt gemeistert. Er war dem Homo sapiens in technischer, emotionaler und rationaler Hinsicht ebenbürtig. Aber er hat Fehler gemacht. Er hat Chancen nicht genutzt. Er ist stehen geblieben, wo der Homo sapiens einen Schritt nach vorne gemacht hat. Er hat auf Weiterentwicklung und Gestaltung seines eigenen Ichs verzichtet. Am Ende kostete dieser Stillstand sein (Über-)Leben. Er hat sein Sein nicht weitergedacht. Das ist sein Testament. Esther Steinmeier

Artikel vom 06.05.2006