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Kinderlieder im KZ fürchterlich missbraucht

Wolf Biermann sang in Corvey zum ersten Mal in seinem Leben das Deutschlandlied mit

Von Wolfgang Braun
Höxter (WB). Seine noch nicht schulpflichtige Tochter Mollie kenne mehr Texte von Hoffmann von Fallersleben als von ihm, beschwerte sich der Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann (69) in seiner Hoffmann-von-Fallerslebenrede am 1. Mai im Kaisersaal von Schloss Corvey.
Der politische Entertainer Wolf Biermann: Im Corveyer Kaisersaal sang er Brechts »Kinderhymne« nach der Melodie Hanns Eisler - Biermanns »Ziehvater« - und auch eigene Lieder. Foto: Wolfgang Braun

Denn solche Lieder nach Texten von Hoffmann wie »Ein Männchen steht im Walde«, »Alle Vögel sind schon da«, »Morgen kommt der Weihnachtsmann« oder »Kuckuck, Kuckuck, ruftĂ•s aus dem Wald« seien bei Mollie (Biermann: »Sogar meine Enkel mache ich mir noch selbst«) die Hits. Was die Kleine aber nicht weiß, das führte er in Corvey in der Redereihe, die Alt-Bundespräsident Roman Herzog eröffnet hatte, aus: Gerade »Alle Vögel sind schon da« wurde von den Nazis im KZ Ausschwitz fürchterlich missbraucht: Entflohene und wieder eingefangene Häftlinge mussten laut diese Verse singen, wenn sie sich zum Galgen schleppten.
Aber auch das Deutschlandlied, das Hoffmann von Fallersleben (1798 bis 1874) 1841 als »Lied der Deutschen« geschrieben hatte, war bei Biermann auf starke Vorbehalte gestoßen. Ihm sei »zum Kotzen und zum Fluchen und zum Weinen« allein schon dann gewesen, wenn er die Melodie des Deutschlandsliedes hörte. Denn einige Situationen vor 1945 haben sich tief in sein Bewusstsein eingebrannt, in denen seine Eltern - sein Vater war als Kommunist, viele seiner Verwandten als Juden ums Leben gekommen - drangsaliert wurden, nur weil sie sich bei »Deutschland, Deutschland über alles« nicht erhoben hatten.
Doch er gab freimütig zu, dass er erst bei der Vorbereitung auf diese Rede, zu der ihn die Rednerin des Vorjahrs, die Beauftrage für Stasi-Unterlagen Marianne Birthler, motiviert hatte, sein Urteil über Hoffmann gründlich revidiert habe. Den Heinrich Heine folgend hatte er Hoffmann stets als »Tendenzdichter« und als »literarischen Kunsthandwerker« abqualifiziert. Aber der politisch Verfolgte habe die »politische Drecksarbeit« gemacht, während Heine in Paris in Sicherheit saß. Vehement hatte sich Hoffmann nämlich in seinen höchst politischen »Unpolitischen Liedern« (1843) für die Aufhebung der deutschten Kleinstaaterei und für die Demokratie eingesetzt. Er war deshalb aus seinem Breslauer Professorenamt und aus dem Land gejagt wurden. Hoffmann habe gekämpft und gelitten, während »Goethe mit seinem Hintern weich und bequem als geadelter Fürstenknecht auf dem feudalen Misthaufen in Weimar saß«, meinte Biermann. Mit seiner Ausbürgerung aus der DDR war Biermann ein ähnliches Schicksal wie diesem »Sänger der Freiheit« widerfahren, der im Dritten Reich ermordet oder ins Exil gejagt worden wäre. Trotz dieser Rehabilitierung Hoffmanns plädierte Biermann für Brechts »Kinderhymne« als neuer Nationalhymne.
Sein Honorar - etwa 7000 Euro - kommt der deutsch-kaukasischen Gesellschaft seines Freundes Ekke Maaß zur Hilfe für die Opfer des Tschetschenienkrieges und anderer Gräuel im Kaukasus zugute. Beim Schluss der Veranstaltung sang Biermann dann das Deutschlandlied mit - zum ersten Mal in seinem Leben, wie er sagte.

Artikel vom 03.05.2006