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Rat an alle ALG-II-Empfänger: »Bloß nicht krank werden«

Wie eine Alleinstehende mit 345 Euro in Bielefeld auskommen soll

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Was zum Leben bleibt: Die ALG-II-Bezieherin Klaudia Raj legt offen, was es bedeutet, in Bielefeld mit 345 Euro einen Monat auskommen zu müssen - Teil II einer Serie über Mindestlohn, ALG II und Zuverdienstchancen.
Klaudi Raj aus Bielefeld muss mit 345 Euro auskommen, wie 2,4 Millionen andere Langzeitarbeitslose in Deutschland auch. Haarklein rechnet sie vor, was zum Leben noch bleibt. Foto: Carsten Borgmeier
Vor der Hartz-Reform hätte die alleinstehende Frau 296 Euro Sozialhilfe bekommen. Damals gab es bei Vorlage des »Bielefeld-Passes« immerhin noch vergünstigte Monatskarten. Vor der Reform wurden auch Kleidung, Möbel, Reparaturen oder neue Elektrogeräten und Renovierungskosten durch »Beihilfen« oder Darlehn vom Sozialamt abgedeckt. Alles gestrichen. In wenigen Ausnahmefällen werden »einmalige Beihilfen« in Darlehnsform akzeptiert, weiß Klaudia Raj weiter.
Die Bielefelderin rechnet vor, welche Einzelposten heute mit 345 Euro bestritten werden müssen:Nahrung, Tabak 132,48, Kleidung, Schuhe 34,16, Renovieren, Strom 26,91, Möbel, Haushaltsgeräte und deren Reparatur 27,60, Gesundheitspflege 13,10, Fahrtkosten 19,32, Telefon, Porto, Internet 22,43, Friseur, Kontogebühren 20,01.
»Ich soll also jeden Monat einen Betrag von 88,67 Euro für Bekleidung, Renovierung, Einrichtung, Haushaltsgeräte und deren Reparatur aus meinem ALG II ansparen, um die nicht mehr durch Einmalbeihilfen gedeckten Kosten bei Bedarf finanzieren zu können«, beklagt Klaudia Raj. Ihr verbleiben zur Lebenshaltung 256,33 Euro, wozu Nahverkehr, Nahrung und Dienstleistungen zählen.
Immerhin: Die Miete wird in voller Höhe vom Amt übernommen. Auch Nachforderungen für Heiz- und Nebenkosten sind so gedeckt. Konkret: Nach Abzug von Stromabschlag, Monatskarte und dem, laut Gesetzgeber, noch anzusparenden Betrag von 88,67 Euro verbleiben der Bielefelderin 169,83 Euro. Das Geld muss auch reichen, um Praxisgebühr, Medizin und Krankenhausaufenthalte bis zu einem Eigenanteil von 82,80 Euro zahlen zu können. Die Befreiung von Zuzahlungen erfolgt erst, wenn dieser Betrag überschritten wird. Also: »Bloß nicht krank werden, denn das kann sich ein Hartz-IV-ler nicht leisten!«
Wer Schulden bei den Stadtwerken hat, so Rajs Erfahrung weiter, muss bis zu fünf Raten zu 35 Euro selbst tragen. Erst von 200 Euro an besteht die Möglichkeit der Kostenübernahme durch die Stadt.
Raj rät dringend zum »Bielefeld-Pass«. Er öffne die Türen zu günstiger Kleidung und zur Bielefelder Tafel. Auch der Jasis-Shop in Bethel sei empfehlenswert. Für sie sei der Einkauf dort allerdings nicht mehr drin. Raj: »Mit meiner alten und abgetragenen Kleidung schäme ich mich, zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen.« Sie wisse genau, so die Bielefelderin, »dass ich sowieso keine Chance habe, weil jeder Arbeitgeber auch auf das äußere Erscheinungsbild achtet, wozu ein anständiger Haarschnitt gehört, der bei mir mindestens ein Vierteljahr vorhalten muss«.
Statt immer beim Normalbürger zu kürzen, sollten die Damen und Herren in Berlin einmal mit dem Sparen bei ihren eigenen Diäten, Vergünstigungen und finanziellen Vorteilen beginnen, rät sie und fordert Gleichheit ein.
Claudia Raj hat wenig Hoffnung: »Solange sich auf dem Arbeitsmarkt und an der Politik unter Führung von Angela Merkel in Bezug auf uns Kleine nichts ändert, wird sich die Arbeitslosenstatistik weiterhin mit Menschen wie mir füllen, die bereit sind, alle sich ihnen bietenden Möglichkeiten zu nutzen - und selbst unter Wert zu arbeiten, um endlich wieder unabhängig leben zu können.«

Artikel vom 04.05.2006