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Der Held im falschen Finale

Oliver Kahn rettet den Bayern den Pokalsieg und genießt den Moment

Von Elmar Neumann
Berlin (WB). Die Augen schließen und dem Fluss der Fantasie alle Schleusen öffnen. Wenn seine Vorstellungskraft so groß ist wie sein (derzeitiges) Leistungsvermögen, hätte Oliver Kahn am Samstagabend im Olympiastadion nicht die geringsten Probleme gehabt, sich am Ziel der Träume zu wähnen.

Genau so muss sich der Bayern-Keeper das ausgemalt haben. Vier Jahre nach seinem folgenschweren Fehler im Finale von Yokohama, als er einen Aufsetzer von Brasiliens Rivaldo nicht zu fassen bekam, Ronaldo einschussgerecht vor die Füße legte und damit die Seinen um den Titel brachte, wollte sich der Titan Kahn in der deutschen Hauptstadt von diesem Tor-Trauma befreien - endlich wieder mal der finale Held sein, unwiderrufliche Wiedergutmachung betreiben.
Allein, es war das falsche, nur das kleine Berliner Finale 2006, in dem Kahn die liebste seiner Rollen einnahm, den Heroen verkörperte. Nicht der 9. Juli, sondern der 29. April. Kein Kick von globalem Gewicht, sondern nur auf nationalem Niveau der Bedeutungsskala. Keiner der weltweit bewunderten Zuckerhut-Zauberer, sondern ein schwäbisch schwätzender Eintracht-Grieche mit Namen Ioannis Amanatidis mühte sich, den einstigen Welttorhüter in der 87. Minute noch zu bezwingen und Claudio Pizarros Führungstor (59. Minute) spät, aber allemal rechtzeitig zu beantworten. Ein gleich von einem halben Dutzend Spielern verdeckter Drehschuss - schlimmer kann's nicht kommen und doch riss Deutschlands ehemalige Nummer eins reflexartig die linke Hand hoch, wendete Oliver Kahn das Schlimmste ab.
Die Tat verdiente die Auszeichnung Weltklasse, wird aber im Gegensatz zu einem weltmeisterlichen Helden-Epos schon in den kommenden Tagen wieder in fußballerische Vergessenheit geraten. Das weiß auch der Pokal-Protagonist selbst, der die Augen an diesem, »seinem« Samstagabend nicht schloss, sondern der Realität ins Auge blickte. »Wir können in dieser Saison etwas schaffen, das noch keiner deutschen Vereinsmannschaft zuvor gelungen ist - das Double zu verteidigen. Das ist momentan Motivation genug, die WM ist noch ganz weit weg.«
Vielleicht ist es schon am Mittwoch soweit. Mit Kölner Schützenhilfe und einem eigenen Erfolgserlebnis gegen den VfB Stuttgart können die Bayern dem 13. Sieg in ihrem 15. Finale auch den 20. Meistertitel folgen lassen.
Die Zahlen stimmen, die Leistungen sorgten dagegen für Unstimmigkeiten. »Wir haben nicht wunderbar, aber gut gespielt«, hatte nur Franzose Willy Sagnol überzeugende Bayern gesehen. Eine Einschätzung, mit der er selbst von Michael Ballack allein gelassen wurde. »Das war ein glücklicher Sieg und keine spielerische Glanzleistung. Vor allem in der ersten Halbzeit hatten wir Glück, bei zwei, drei brenzligen Situationen nicht in Rückstand geraten zu sein«, fand der scheidende Mittelfeldmann klare Worte.
Die Begründung für die Münchener Nachlässigkeiten indes dürften jedem Spieler, der bislang nur davon geträumt hat, beim Pokalfinale in Berlin mitzuwirken, die Tränen in die Augen treiben: »Frankfurt hatte nichts zu verlieren, war bereits vorher für den UEFA-Cup qualifiziert und spielte entsprechend befreit auf. Für uns ist so ein Endspiel - für viele war es das dritte Mal innerhalb von vier Jahren - fast zur Routine geworden. Das hat man in der Anfangsphase deutlich gemerkt. Da waren wir nicht heiß genug.« Immerhin: In der zweiten Halbzeit erreichte der Rekordmeister phasenweise bayrische Betriebstemperatur und zeigte sich dabei sogar Teilen der europäischen Elite ein paar Grad voraus - wie Sagnol schmunzelnd hervorhob: »Ob Juventus Turin in Italien, der FC Barcelona in Spanien oder Lyon in Frankreich - sie alle haben das Pokalfinale verpasst, der FC Bayern hat es gewonnen.«
Was bleibt, ist Oliver Kahns (unerfüllter) Traum. Ausgeträumt, das belegt schon ein Blick auf den Kalender, ist der noch nicht. Kahns persönliches Berliner Final-Déjà-Vu 2006 ist noch drin, auch wenn die Verwirklichung nach der Degradierung zum Klinsmann'schen Ersatzspieler nicht mehr in seinen Händen liegt. Für den Fall der Fälle ist der ehrgeizige Ex-Karlsruher trotzdem gerüstet: »Voraussetzung ist, dass wir das Finale erreichen. Aber wenn etwas passieren oder sich entwickeln sollte, werde ich natürlich professionell vorbereitet und gewappnet sein.« Dazu bedarf es nur bescheidener Vorstellungskraft.

Artikel vom 01.05.2006