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Die Arbeiter
schwingen das
Geistesschwert

Anregende Ausstellung zum 1. Mai

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Kaum waren die Sozialistengesetze außer Kraft, versammelten sich die Arbeiter zu großen Kundgebungen. Und Bielefeld marschierte vorneweg, wie eine neue Ausstellung im Stadtarchiv zeigt: »Der 1. Mai - vom Klassenkampf zur Sozialpartnerschaft«.

»Fleißig webst du, und du spinnst. Sag, o Volk, was du gewinnst?« war auf einer Tafel zu lesen, die am 1. Mai 1919 von Textilarbeitern durch die Niederstraße getragen wurde. Aber die Lohnarbeiter erhoben schon Jahrzehnte früher ihre Stimme; bereits 1889 forderten sie den 1. Mai als Feiertag - im Kaiserreich also musste, wer marschieren wollte, gleichzeitig streiken.
Der Historiker Bernd Wagner, der die Bestände des Stadtarchivs durchforstete, fand einen sehr schönen Druck (eine Beilage zum SPD-Organ »Vorwärts«) mit einem agitierenden Schlosser, der Kollegen den Weg zur Kundgebung - und damit in die goldene Zukunft - weist. Die Reaktion ist zwiespältig: Einer vertauscht bereits die Arbeitskluft mit dem feinen »Bratenrock«, der andere bleibt (aus Angst vor Repressalien?) an der Werkbank hocken.
»Die Symbolik dieser alten Drucke erschließt sich dem modernen Menschen kaum noch«, stellt Wagner fest, hilft also dem Betrachter mit informativen Erläuterungen auf die Sprünge. Anno 1897 sitzt da eine schöne Dame (die Germania? die Bildung? die Göttin der Weisheit?) auf dem Thron, ihr Fuß ruht auf Marx, Lassalle und Darwin (!), und sie überreicht dem begierig die Arme reckenden Arbeitervolk das strahlenumkränzte »Geistesschwert«. Derweil kehrt ein Bursche die staatlichen Sozialreformen, halbherzig wie eh und je, in den Müllsack der Geschichte.
Die anregende Schau widmet sich in drei Abteilungen dem Maifeiertag von 1890 bis in die 1970er Jahre, als der DGB auf expressionistischen Holzschnitt-Plakaten und reichlich unspezifisch »Recht auf Arbeit - Recht auf Kultur« forderte. Wo einst ein grimmiger Löwe (das Symbol der Kraft schlechthin) den Bürger, den Geistlichen und den Offizier anfauchte, grämte sich der Nachkriegsdeutsche über Erwerbsarbeit im Schatten des Atompilzes.
Die Sprache wiederum, in der man agitierte (und träumte), blieb lange weich und lyrisch. »Blühende Zweige und grünendes Land im Freude erweckenden Tag, über Fabriken leuchtendes Band - verstummt ist ihr zwingender Schlag«, dichtete man in einer Broschüre, wie sie in den 50ern und 60ern zu den Maikundgebungen verteilt wurden.
Noch etwas blieb: Die Nationalsozialisten, die den 1. Mai zum Feiertag adelten, organisierten die Aufmärsche minutiös - und von dieser Eindruck schindenden Tradition mochte man auch nach 1945 nicht lassen. Sammelpunkt, Abmarschzeit, Kundgebung, Tanz und »ein Kessel Buntes«: Ob Schillerplatz (heute: Straßenbahnhaltestelle Rathaus), ob auf den Heeper Fichten oder vor der Brackweder »Lichtburg« (heute: Treppenplatz) - der Arbeiter wusste noch, wo er die Faust ballen sollte.
Ohne Musik allerdings wäre der schönste Klassenkampf fade: Bernd Wagner hat Tuba und Posaune vor der (roten!) Fahne des Arbeiter-Gesangvereins »Sangeslust Stieghorst« drapiert. »Ich dachte immer, die haben Hanns Eisler und die Internationale gesungen, aber weit gefehlt: Schubert, die Romantik, bürgerliches Liedgut - so klang der 1. Mai!«
Die Schau an der Rohrteichstraße ist bis Ende Juli werktags von 10 bis 17 Uhr zu besichtigen.

Artikel vom 29.04.2006