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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Unlösbar mit dem Namen des Mose verbunden sind die Zehn Gebote. Er empfängt sie auf dem Sinai. Gewaltige, furchterregende Naturerscheinungen wie Wolken, Feuer und Rauch, die den ganzen Berg einhüllen, markieren das Außergewöhnliche und halten Unbefugte auf Abstand. Später ist noch von zwei steinernen Tafeln die Rede, in die diese Sätze eingemeißelt sind. Daß Einzelheiten voneinander abweichen, hängt mit den unterschiedlichen Überlieferungen zusammen, die in der Folgezeit noch weiter anwuchsen. Das Ganze ist eben kein detailgetreues Protokoll, sondern es kommt auf die Hauptsache an: Gott selbst - und nicht Mose - ist Urheber der Zehn Gebote.
Sogar »Der Spiegel«, sonst allem Religiösen verhalten gegenüber, nennt die Zehn Gebote (Ausgabe vom 15.04.2006, S. 152f.) »den erhabensten Sittenkodex der Weltgeschichte« und zählt sie »zum kostbarsten Schatz des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit«. Daß Gott spricht, sei »ein altes Bild für das Ungeheure und Unbegreifliche«, in diesem Fall für »die sensationelle moralische Kehre« nach »den Jahrtausenden vorher, in denen nichts als das brutale Recht des Stärkeren galt«. Darüber hinaus wird sogar eingesehen und eingeräumt, daß die »wichtigsten Normen« menschlichen Zusammenlebens »keineswegs rein weltliche Produkte«, sondern »letzten Endes religiös fundiert« sind - Grund genug, die Zehn Gebote (Ex./2. Mose 20, 1-17) wieder einmal aufzuschlagen und sich einzuprägen.
Zu Beginn stellt Gott selbst sich vor: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« Der Nachsatz mit dem Hinweis auf die Befreiung erscheint wie eine beiläufige Floskel; in Wirklichkeit ist er der Schlüssel zum Verständnis der Gebote überhaupt. Denn er nennt das Grundmotiv und die Grundabsicht: Nicht - zumindest nicht in erster Linie - Verbote, Moral und Verzicht, sondern Befreiung aus falschen Abhängigkeiten. Das gilt über die konkrete, am Volk Israel vollzogene göttliche Errettung hinaus.
Wird ein Mensch seiner selbst gewiß, weil er von Gott gewollt ist, entsteht Freiheit. Er muß dann nicht auf Kosten anderer leben. Weiß er sich von einem Größeren getragen und gehalten, verliert er an Angst. Lebt er mit sich selbst im Frieden, weil Gott ihn versteht und er sich deshalb nicht dauernd verteidigen und zur Schau stellen muß, gewinnt er an innerer Souveränität. Er braucht andere Menschen nicht mit Göttern zu verwechseln, aber auch nicht mit Teufeln. Freiheit gründet darin, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu entdecken und sich so aus anderen Abhängigkeiten, auch vom Urteil der Leute, zu lösen.
Da aber Freiheit Voraussetzung und Ziel der Zehn Gebote ist, kann man keinen Egoisten und erst recht keinen Verwahrlosten oder Kriminellen auf direktem Wege mit ihnen kurieren. Diese müßten erst wieder zu der Quelle des Lebens selbst zurückfinden, und darum geht es gleich im Ersten Gebot: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.«
Luther überträgt das so: »Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verläßt, das ist eigentlich dein Gott.« Wie das Seziermesser eines Chirurgen die Haut durchtrennt und die Eingeweide offenlegt, dringt dieser Satz zum Kern der Person vor: Worauf zielen meine Wünsche? Worauf baue ich mein Leben, und was gibt mir Halt? Was ist mir das Allerwichtigste? Woher beziehe ich mein Ansehen, und was läßt mich hoffen?
Zugleich ist diese Aussage Luthers wie ein Mikroskop, um die Krankheitserreger, die falschen Alternativen zu dem lebendigen Gott, zu erkennen. Alles, was nur vergänglich ist, betrügt einen, wird es absolut gesetzt, letztlich um die Freiheit und den Sinn seines Lebens. Selbst so hohe Werte wie Arbeit, Familie, Kinder, Ehrbarkeit oder Gesundheit bilden davon keine Ausnahme. Niemand kann davon leben, weil er nach und nach eins nach dem anderen loslassen muß. Die »anderen Götter« täuschen Erfüllung und Lebenssinn nur vor, und zu allem, was sie zu geben scheinen, gesellen sie die geheime Angst, es wieder zu verlieren, und zwar so, als wäre es das Leben selbst. Nur der vermag die Sehnsucht des Daseins zu stillen, der das Leben gegeben hat: der Herr über das Leben und den Tod. Denn dessen Beziehung zu einem Menschen reißt auch mit dem Tode nicht ab.

Artikel vom 29.04.2006