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Volksmund

Ȇberlegt zu schweigen
ist eine größere Kunst als einfach loszureden.«

Leitartikel Nehm und der Fall Potsdam

»Umstritten«
heißt die Allzweckwaffe


Von Rolf Dressler
Ob Politik, Presse oder plumpes Propagandistentum, sie alle pflegen eine zwiespältige Übung ganz besonders hingebungsvoll: Was aus ihrer Sicht - »so« je- denfalls und schon gar »zum falschen Zeitpunkt« - besser nicht öffentlich erörtert werden sollte, wird kurzerhand erst einmal für »umstritten« erklärt. Vorbeugend versucht man Unerwünschtes abzuwehren, kleinzureden und Andersdenkende und Andersmeinende madig zu machen, herabzusetzen oder gar als mehr oder minder spinnert hinzustellen.
Von Tag zu Tag tiefer in die Schublade »umstritten« gerät aus vielerlei Gründen nun auch der (Überfall(?)-Fall des Deutsch-Äthiopiers Ermyas M. in der Nacht zum Ostersonntag 2006 in Potsdam. Denn als immer wahrscheinlicher schält sich eines wohl heraus: dass das schlichte, stets gern flugs diagnostizierte Strickmuster eines Gewaltverbrechens aus niederem rechtsextremistischen und gar rassistischen Antrieb hier nicht recht passen will.
Nur Generalbundesanwalt Kay Nehm allein kann Aufschluss darüber geben, weshalb er genau diese härteste Blitzkarte zog, als er die Ermittlungen in dieser ominösen Sache an sich zog. Schon damals war die Erkenntnislage, wie wir heute immerhin wissen, unzureichend. Und seither wurde sie sogar noch dünner beinahe von Stunde zu Stunde.
Damit auch nicht der geringste falsche Zungenschlag durchklingt: Jedes Haar, das Menschen von Menschen gekrümmt wird - aus welchen Motiven auch immer -, ist eines zu viel. Diese Selbstverständlichkeit bedarf nun wirklich nicht solch nachrichtensprachlicher Verrenkungen wie etwa jener, dass das Opfer »brutal« zusammengeschlagen worden sei. Denn sanft und mildttätig prügeln Gewalttäter bekanntlich nirgendwo auf der Welt andere Menschen krankenhausreif, ins Koma oder sogar zu Tode.
Das dürfte eigentlich ebensowenig streitig - pardon, umstritten - sein wie der überflüssige doppelte Superlativ vom »Super-Gau« in Tschernobyl. Denn schon das Kürzel »Gau« steht ja für den »größten anzunehmenden Unfall«.
Völlig unerfindlich bleibt unterdessen bis auf weiteres, warum ein an sich besonnener und abwägender Mann wie Deutschlands Generalbundesanwalt Kay Nehm schon kurz nach jenem folgenschweren nächtlichen Faustgefecht in der Potsdamer Innenstadt ungeschützt und ungesichert die Parole ausgab, es könne sich - angeblich praktisch zweifelsfrei - nur um eine Untat von Rechtsaußen-Brutalos handeln.
Munter weiter wogt derweil bezeichnenderweise etwa auch der öffentliche Widerstreit darüber, wie Deutschlands Gerichte und die Öffentlichkeit denn sinnvoll »angemessen« mit dem »Phänomen« der sogenannten »Ehrenmorde« von Moslems an Moslems umgehen sollten.
Seien wir endlich ehrlich: Das Katzbuckeln und die Drückebergerei gerade auch in dieser existentiellen Frage wirken schon lange nur noch peinlich. Unstreitig?

Artikel vom 29.04.2006