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Dann reckte sie den Kopf in die Höhe und marschierte durch die Halle, wobei die Prothese trotzig über das Parkett klackerte.
»Sie sehen?«, sagte Mrs P mit vorwurfsvoller Stimme. »Alle sind soo wichtig!«
»Ja«, sagte ich schwach und streichelte die Finger der glücklichen Hand. »Ja.«
Mrs P nahm das Kuchentablett wieder auf. »Ich muss das jetzt bringen zu den andern. Haben Sie schon gegessen Lunch, Master Charles?«
»Hmm? Lunch? Was ist das noch mal?«
»Ich mache Ihnen ein Sandwich, ja?«
»Nein, nein, Mrs P, nicht doch, es ist alles bestens, Sie haben sicher genug zu tun, auch ohne É«
»Oder vielleicht etwas Käse, ja?«
»Käse É hmm.« Es war schon ziemlich lange her, dass ich ein anständiges Stück Käse gehabt hatte. »Wissen Sie was, Mrs P? Sie kümmern sich um den Käse, und ich erledige das mit dem Tablett. Sie müssen mir nur sagen, wo ich es hinbringen soll.«
»Master Charles, Sie sind immer so nett.« Sie sagte, dass der Kuchen für die Schauspieler im Musikzimmer sei, tätschelte mir den Arm und watschelte in die Küche, aus der Sekunden später Vuk und Zoran auftauchten, die wie aufgescheuchte Katzen an mir vorbeischossen und Richtung Gartenschuppen verschwanden.

J
etzt, da sie es erwähnt hatte, fühlte ich mich tatsächlich ziemlich ausgehungert. Ich aß also die restlichen Küchelchen und trank den Orangensaft. Dann ging ich ins Musikzimmer, wo sich praktisch die gesamte Menagerie zum Proben eingefunden hatte. In einer Ecke stritten sich ein kleiner Dicker und ein Mädchen mit Haarspangen über einen Hut und ob der auch wirklich gerichtssaalmäßig aussehe; einige saßen im Lotussitz an der Wand, mit geschlossenen Augen, die Lippen bewegend. Die meisten jedoch gingen auf und ab, das Manuskript in der Hand, die Stirn gerunzelt, vor sich hinmurmelnd. Irgendein sechster Sinn schien sie davor zu bewahren, sich gegenseitig über den Haufen zu rennen. Ein ziemlich unheimliches Bild, man kam sich vor wie auf einem Kongress für Schlafwandler.
»Mein Liebling!« Mutters Stimme, hinter mir. »Wie schön, dass du mich besuchen kommst! Wie schrecklich blass du aussiehst, mein Lieber. Setz dich doch, erzähl, was ist passiert?«
»Hallo, Mutter. Ach, nichts eigentlich. Schätze, ich bin nur ein bisschen übermüdet.«
»Was?« Sie schaute verwirrt von ihrem Manuskript auf. »Hallo, Charles, was machst du denn hier?«
»Äh É Ich wollte euch bloß den Rollstuhl vorbeibringen.«
»Der Rollstuhl, wunderbar. Das muss gleich einer Bel sagen, der ist für ihre Rolle. Charles, warum trägst du das schmutzige Geschirr da spazieren?«
»Das hat mir Mrs P gegeben«, sagte ich.
»Tss, tss«, sagte Mutter kopfschüttelnd. »Hört denn die Schlamperei dieser Frau nie auf? Nun ja, stell das weg, mein Lieber. Wir sind zwar ziemlich beschäftigt im Moment, aber wenn du schon mal hier bist, können wir auch einen Schluck zusammen trinken.«
Ich stellte das Tablett auf die Anrichte und folgte ihr hinaus in die Halle, wo sie diversen Hausbewohnern zunickte. »Du siehst gut aus, Charles«, sagte sie. »Du hast etwas Farbe bekommen.«
»Die haben meinen Verband gewechselt, wenn es das ist, was du É«
»Es ist die Kraft, die von innen kommt, das ist es. Ich wusste, es würde dir gut tun, wenn du dich der Härte der realen Welt stellen musst.«
»Ja, Mutter«, sagte ich und bog in ihrem Schlepptau ins Speisezimmer ein.
»So ein Tag ehrlicher Arbeit erfrischt doch ungemein«, sagte sie nachdenklich und schenkte erst mir und dann sich ein Glas Sherry ein. »Seinen Beitrag zu leisten, eine Aufgabe anzunehmen, nach der Arbeit in der Tram zu sitzen, mit der befriedigenden Gewissheit, dass die Rolle, die man spielt, und sei sie auch noch so klein, unverzichtbar für das große Ganze ist. Diese Art von Befriedigung ist doch unbezahlbar, ist es nicht so, mein Lieber?«
»Ja«, sagte ich. »Obwohl, was die tatsächliche Bezahlung angeht, ist es ihnen schon gelungen É«
»Gut, gut, denn das ist es doch schließlich, was die Welt in Gang hält, nicht wahr, Charles? Was genau machst du denn nun? Irgendwas im öffentlichen Dienst, oder? Und, ist das nicht furchtbar erfrischend?«
»Nun ja, ich würde sagen, es ist in Maßen erfri É«

W
eißt du eigentlich, wie furchtbar stolz wir alle auf dich sindÉ?« Mit dem Glas in der Hand rauschte sie wieder hinaus in die Halle. »Wie schon gesagt, wir sind hier selbst sehr beschäftigt, Harrys neues Stück hat in drei Wochen Premiere, und wir schuften alle wie die Kulis. Nicht, dass einer von uns auch nur einen Penny daran verdient É Vielleicht sollten wir dich als Mäzen gewinnen, Charles?«
»Ha, ha«, erwiderte ich lahm. Die ödipalen und ökonomischen Probleme, die dieser Büchse der Pandora entspringen konnten, ließen mich vor diesem Gedanken zurückschrecken.
»Eine bemerkenswerte Arbeit, wirklich bemerkenswert. Dieser Junge hat ein derartiges Händchen für die Geschichten des Alltaglebens, für die Geschichten des einfachen Mannes, könnte man sagen. Für uns, Charles, in unserem Elfenbeinturm, mit unseren behaglichen Stellungen im öffentlichen Dienst ist bestens gesorgt, aber was ist mit den weniger Glücklichen? Für die ist das kein Zuckerschlecken, musst du wissen.«
»Ja, kann ich mir vorstellen É«
»Und deshalb können sie von Glück sagen, dass ein junger Schriftsteller wie Harry ihnen eine Stimme gibt. Allerdings kann mein Urteil kein völlig unparteiisches sein, schließlich spiele ich selbst eine kleine Rolle, die der kranken Mutter.« Sie lachte und kippte den Rest ihres Sherrys hinunter. Ich nutzte die Pause und fragte schnell, wo Bel sei, damit ich ihr von dem Rollstuhl erzählen könne.
»Weiß der Himmel«, sagte Mutter. »Wahrscheinlich schwirrt sie irgendwo oben herum. Aber sei bitte vorsichtig, in letzter Zeit ist sie der perfekte Antichrist.«
»Ach ja?«, sagte ich. »Als ich mit ihr gesprochen habe, hat sie sich ganz vernünftig angehört.«
»Mein Wort drauf«, sagte Mutter grimmig. »Und wenn man ein Stück probt und alle an einem Strang ziehen müssen, Charles, ist das nicht gerade sehr hilfreich.« Sie stieß einen ihrer Märtyrerseufzer aus. »Ich kann nur hoffen, dass sie nicht wieder in ihre alten Gewohnheiten verfällt, gerade jetzt, wo es den Anschein hatte, dass sie endlich ein bisschen aufgeschlossener wird É«
»Ach was«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist sie bloß ein bisschen überdreht. Du weißt doch, wie sie sein kann É«
»Mmm«, sagte Mutter zweifelnd und drehte das Sherryglas in den Händen. Ich entschuldigte mich und ging etwas beklommen die Treppe hinauf.

V
or ihrem Zimmer am Ende des Ganges ging Bel langsam auf und ab. Sie trug einen Morgenmantel, ihr Kopf steckte tief in einem Manuskript, und ihre freie, an der Seite herunterhängende Hand machte stoßende Bewegungen.
»Ich will keine Almosen von dir, Ann«, sagte sie. »Dein frommes Getue hängt mir zum Hals raus. Vielleicht hast du Recht, vielleicht bin ich verbittert und selbstbezogen. Aber ich hätte ein genau so gutes Model werden können wie du, vielleicht sogar ein besseres, wenn mich damals als Kind nicht das Auto angefahren hätte.« Sie hielt inne, als gebe sie jemandem Zeit zu antworten, und fuhr dann wütend fort. »Helfen? Mir? Wie kannst du mir helfen? Hast du einen Zauberstab, mit dem du rumwedelst und die Modeindustrie aufrüttelst, damit sie vom behinderten Teil der Bevölkerung Notiz nimmt? Und wenn die Gesellschaft dann hinschaut, dann werden sie nicht nur diesen Stuhl hier sehen, sie werden mich in dieses engstirnige Stereotyp pressen É« Ich tippte ihr auf die Schulter. Sie fuhr zusammen, presste das Manuskript an die Brust und schoss herum. »O mein Gott! Was soll das? Was schleichst du hier rum?«
»Hallo, Charles. Wie schön, dich zu sehen, Charles. Wie nett von dir, Charles, dass du in deiner knappen Freizeit vorbeikommst und unseren dummen Rollstuhl für unser sterbenslangweiliges Stück vorbeibringst.«
»Du hast den Rollstuhl gebracht?«, fragte sie und setzte sich auf einen von mehreren verstaubten Pappkartons, die überall im Gang herumlagen. »Wo ist er?«
»In der Halle«, sagte ich. »Mutter hat gemeint, dass du gleich Bescheid wissen wolltest. Was machst du hier so allein? Was sollen die ganzen Kartons?«
»Die sind vom Speicher. Vielleicht ist was drin, was wir fürs Stück brauchen können. Und ich bin hier oben, weil ich gehofft habe, dass ich hier endlich mal eine Minute Ruhe habe, um meinen Text durchzugehen. Aber das war offensichtlich ein Trugschluss.«
»Ist das Harrys neues Stück, das du da übst?«
»Hier, schau selbst«, sagte sie, drückte mir das Manuskript in die Hand und verschwand in ihr Zimmer.
Die Rampe stand auf der ersten Seite, darunter in Großbuchstaben Harrys Name. Auf der nächsten Seite stand Dramatis Personae: Mary - eine verbitterte junge Frau in einem Rollstuhl; ann - ihre liebevolle und wunderschöne jüngere Schwester, Model; Mutter - die Mutter der beiden; Jack Reynolds - ein eleganter, sozial engagierter junger Anwalt.
Ich ging in ihr Zimmer und fragte: »Worum gehtÕs in dem Stück?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.05.2006