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Er trat aufs Gaspedal, und der Motorenlärm verschluckte meine Stimme. Dann rollte er rückwärts die Einfahrt hinunter. »Herrgott noch mal, sie wird dich schon nicht beißen«, rief ich ihm hinterher. »Und wie soll ich dann nach Hause kommen?« Zu spät. Er setzte den Blinker und bog vorsichtig in die Straße ein. Eine Augenblick lang wünschte ich, ich wäre mit zurückgefahren.
Ich verfluchte ihn und machte mich wieder auf die Suche nach dem Schlüssel. Sekunden später, den Schlüssel hatte ich immer noch nicht gefunden, hielt tuckernd der ehrwürdige Mercedes neben mir.
»Hallo, Charles!«, sagte Harry und stieg aus. »Lange nicht gesehen!«
»Nicht ohne Grund, du Idiot«, brummte ich leise vor mich hin.
»Was?«

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ch richtete mich auf und warf ihm einen kühlen, tadelnden Blick zu. Seine ärgerliche Frisur sah schlimmer aus denn je, aber die revolutionäre Garderobe hatte er anscheinend ausgetauscht. Statt der Nahkampfhose trug er Beinkleider aus robustem Tweed, und die öde bäuerliche Jacke war durch eine Weste mit einer abscheulichen aztekischen Applikation ersetzt worden. »Was denkst du dir eigentlich dabei, einfach mit dem Wagen rumzufahren?«, sagte ich.
»Hab mir gedacht, ich dreh eine kleine Runde«, sagte er milde. »Ist doch eine Schande, so ein herrliches Gefährt in einer stickigen alten Garage einzusperren.«
»Der Wagen ist ein Museumsstück«, sagte ich. »Der ist nicht zum Fahren.«
»Jetzt mach aber mal halblang«, sagte er lachend. »Natürlich ist er zum Fahren da. Dafür werden Autos gebaut, und nicht, um unter einer Plane zu vergammeln.« Er strich zärtlich mit seiner behandschuhten Hand über die flaschengrüne Seite. »Schnurrt immer noch wie ein Traum. Musste bloß mal ein bisschen durchgepustet werden.«
»Wie auch immer«, sagte ich mit scharfer Stimme. »Ich sage dir hiermit, dass der Wagen ein antikes Stück von unschätzbarem Wert ist und dass ich es lieber sähe, wenn du es in Ruhe lässt.«
»Wie du willst«, sagte er achzelzuckend.
Ich kehrte ihm den Rücken und suchte unter dem Blumentopf weiter nach dem Schlüssel.
»Wenn du den Schlüssel suchst, der ist da nicht mehr«, sagte er.
Langsam, mit zusammengebissenen Zähnen, stand ich wieder auf.
»Aber keine Angst, ich kann dich reinlassen. Ach ja, du hast ja unsere neuen Mitbewohner noch gar nicht kennen gelernt, oder?«
»Was, noch mehr Unterprivilegierte?«, sagte ich abschätzig.
»Wart eine Sekunde.« Er lief zu dem Gestrüpp neben der Garage und schnalzte ein paarmal mit der Zunge.
»He, wart mal, ich bin ziemlich in Eile und É« Dann fiel mir die Kinnlade herunter; aus dem Gebüsch stolzierten die Pfauen auf mich zu.

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ie hatten kaum noch etwas mit den von Seuchen befallenen Kreaturen gemein, als die ich sie zurückgelassen hatte. Im Gegenteil, ich glaube nicht, dass sie jemals besser ausgesehen haben. Jede einzelne ihrer perlmuttfarbenen Federn glänzte, jedes Auge auf den fächerförmig ausgebreiteten Schwanzfedern glitzerte. Und was da piepsend vor ihnen herlief, glich kleinen, sehr beweglichen Staubbällchen.
»Sind das etwa Neue?«, sagte ich ungläubig.
»Kann man so nennen«, sagte er. »Rosa hat sie letzte Woche bekommen - die Große da, die nennen wir Rosa, nach Rosa Luxemburg.«
»Das hat sie noch nie gemacht«, sagte ich und sah mir die fragliche Dame genau an.
»Na ja, die sind mir alle ein bisschen fertig vorgekommen, und da habe ich eben ihre Ernährung etwas umgestellt, habe den Käfig in Ordnung gebracht, so was. In Guatemala habe ich viel mit Vögeln gearbeitet. Schätze, das alles hat sie wieder in Stimmung gebracht. Und ruckzuck hatte Rosa die beiden Wonneproppen hier, den kleinen Che und den kleinen Chavez.«
Was stellte er nur mit meinem Haus an?
»Da kannst du ja mächtig stolz sein auf dich«, sagte ich. »Trotzdem, wenn du so nett sein könntest, mir die Tür É«
»Entschuldige«, sagte er. Er sprang die Stufen hinauf, schloss auf, sprang dann die Stufen wieder hinunter und half mir mit dem Rollstuhl. Gleich hinter der Tür setzten wir ihn ab. Ich schaute ihn an. Er lächelte mich tumb an.
»Jetzt komm ich schon allein zurecht«, sagte ich.
»Gut«, sagte er. »Bis später dann.«

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emächlich ging er wieder in den Garten. Ich blieb kurz auf der Schwelle stehen und betrachtete versonnen die Halle. Alles schien genau so zu sein, wie ich es verlassen hatte: Da war der Weihnachtsstern, da der Brancusi und da das Glasfries des Actaeon, durch das kuriose Lichtschnörkel auf den Boden fielen. Und doch fühlte es sich auf unerklärliche Weise anders an - nicht ganz überzeugend, wie dieser merkwürdige Missklang, wenn man zum ersten Mal einen Ort besucht, den man schon viele Male auf Fotografien gesehen hat. Und dann, wie um meine Bedenken zu beschwichtigen, rauschte Mrs P mit einem Tablett Schmetterlingskuchen und einer Karaffe Orangensaft aus der Küche.
»Master Charles!«, kreischte sie. »Sind Sie es wirklich? Bitte, wollen Sie nicht nehmen ein Stück Kuchen?«
»Danke«, sagte ich. Das fühlte sich schon besser an.
»Warum sind Sie nicht gekommen früher, um mich zu besuchen«, schalt sie mich. »Warum haben Sie gewartet so lange?«
»Ach ja, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte ich lässig. »Und, wie stehen die Dinge hier? Wie gehtÕs unserm alten Kasten?«
»Oh, Master Charles, wir Sie vermissen so sehr«, sagte sie seufzend und stellte das Tablett ab. Dann trat sie hinter mich, um mir aus dem Mantel zu helfen. »Alle arbeiten, alles immer nur hopphopp, keiner hat Zeit, sich zu setzen für ein schönes langes Abendessen É Und Sie, Master Charles? Sie sind jetzt auch wichtig, oder? Jetzt, wo Sie arbeiten, wo Sie verdienen Geld É«
»So wichtig auch wieder nicht«, versicherte ich ihr, während sie sich den Mantel über den Unterarm legte und zur Garderobe brachte. Hinter mir hörte ich das Knarzen einer Treppenstufe. Ich drehte mich um und sah - mit einem Anflug von Wiedersehensfreude - oben an der Treppe Bel in mein Blickfeld treten.
»Charles!«, rief sie aus.
Moment, das war ja gar nicht Bel, das war Mirela, die Bels silbernen Kimono trug. Ich spürte, wie mein Herz zurücksetzte, als wäre es fälschlicherweise in eine Einbahnstraße eingebogen.
»Meine Güte, wie gehtÕs dir denn?«
»Was?«, sagte ich verwirrt und versuchte, nicht auf den wohlgeformten Halbmond aus Fleisch zu starren, den die Öffnung des Kimonos enthüllte, als sie sich über das Geländer nach vorn beugte. »Ach, leidlich gut É«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst«, sagte sie und hüpfte mehrere Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. »Wie ich jetzt aussehe. Warum hast du uns nicht schon früher mal besucht? Hast du uns etwa vergessen?«
»Ach«, krächzte ich. »Du weißt ja É«
»Wahrscheinlich ist dein neues Leben viel aufregender. Aber warum hast du nicht wenigstens mal angerufen?«

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ch sollte kurz erklären, dass ich mir natürlich vorher ausgiebig Gedanken über meine Vorgehensweise gemacht hatte, sollte ich, was wahrscheinlich war, Mirela über den Weg laufen. Schließlich hatte ich mich gegen jeglichen offenen Vorwurf, ihre Gleichgültigkeit und allgemeine Herzlosigkeit betreffend, und für eine im Ton höfliche, aber unversöhnliche Gefühlskälte entschieden. Allerdings schien schon jetzt alles durcheinander zu geraten. Denn sie - die etwas über mir stehen geblieben war und deren Hand wie die Blüte einer edlen Kletterpflanze auf dem Treppengeländer ruhte - schien felsenfest davon überzeugt, dass ich es gewesen war, der sie vernachlässigt hatte. »Und ich hatte gedacht, damals abends nach dem Stück, dass wir uns wundervoll unterhalten hätten«, sagte sie. »Aber dann bist du einfach verschwunden. Du hast dich nicht mal verabschiedet.«
Ich konnte nur glotzen. War ich etwa wieder im Spiel? Hatte sie etwa die ganze Zeit nach mir geschmachtet?
»Du siehst gut aus, Charles?«, sagte sie leise und trat hinunter auf die vorletzte Stufe.
»Die haben den Verband gewechselt«, hauchte ich.
Wer weiß, was geschehen wäre, wenn es ihr gestattet gewesen wäre, auch noch die letzte Treppenstufe hinunterzugehen. Doch unser Idyll wurde ohne jede Vorwarnung zerstört - von Mrs P, die aus der Garderobe zurückkam, sich hinter mir aufbaute und zu einem wortreichen und, nach dem Klang zu urteilen, höchst tadelnden Vortrag auf Bosnisch anhob.
»Mama, würdest du bitte Englisch reden?«, rief Mirela. Daraufhin erhöhte sich lediglich die Lautstärke der Tirade. »Warum kann das nicht einer von den Jungs machen? Die sitzen bloß rum und spielen Backgammon.«

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rs P verschränkte die Arme und schaute ihrer Tochter direkt in die Augen; einen Augenblick lang hielt Mirela stand, dann knickte sie ein. »Schon gut, schon gut, nur für den Fall, dass es jemand vergessen haben sollte É Meine Mutter ist das Hausmädchen.« Sie wandte sich flehentlich an mich. »Tut mir Leid, Charles. Vielleicht können wir ja später noch reden.« Ich spürte ihre kühle Haut, als ihre Hand über die meine strich und meine Finger drückte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.05.2006