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Und dann, wenn ihr langsam dämmerte, wer sie war, welch edlem Geschlecht sie entstammte, und sie schließlich begriff, dass diese Liebe einfach nicht sein konnte - erst dann hatte sie angemessen traurig zu sein und endlose Monate lang Trübsal blasend durchs Haus zu wandeln, bis zu jenem Tag, an dem ihrem gütigen, wenn auch permanent unverstandenen Bruder es schließlich gelang, ihr wieder ein Lächeln zu entlocken, und sie erkannte, dass es immer noch einen blauen Himmel gab, und sie wieder in unsere Mitte zurückkehrte. Und angemessen wäre dann noch, sich nicht einfach gelangweilt aus diesem Dreiecksverhältnis zurückzuziehen und sich auf Gedeih und Verderb einzulassen mit jenem Mistkerl, der sich ihres gütigen Bruders Zimmer unter den Nagel gerissen hatte, und dann obendrein noch zuzulassen, wie man jenen Bruder in die kalte Nacht hinausjagte.
Aber das war genau das, was sie getan hatte, und so war ich schließlich im selben Boot gelandet wie diese flennende Gestalt, die mit verschmiertem Gesicht neben mir hockte. Jetzt, überlegte ich schwermütig, würde ich wieder ganz von vorn anfangen müssen. Ich würde mir einen neuen Platz im Leben dieser neuen Figur suchen müssen - dieser neuen Bel, die ihren Text behielt, die Doris-Day-Lieder sang und sich nichts inständiger wünschte, als weit weg von hier auf einer Bühne zu stehen. In London! Oder am Broadway! Schon jetzt, während die Nacht voranschritt und die Dunkelheit in jeden Winkel der unglückseligen Wohnung vordrang, sah ich die gigantischen Wellenberge vor mir, die sich zwischen uns auftürmen würden.


Zehn
Bonetowns Hallowee-Heen zog sich bis weit in den November. Jeden Abend schien das Zerstörungswerk heftiger zu wüten, sodass ich nach der Arbeit auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause ehrlich um mein Leben fürchtete - obwohl die Feiernden aufgrund meiner exotischen Erscheinung dazu neigten, in mir eine Art Festwochenmaskottchen zu sehen und mich in der Regel mit Jubelrufen und hochgereckten Daumen begrüßten.

S
chließlich, das war so um die Mitte des Monats, erreichte die Gewalt ihren Höhepunkt. Ich weiß noch, dass ich zweimal abgeschlossen hatte und mit Frank zusammen versuchte, die Nachrichten zu sehen. Aber bei der Randale, die sich vor unserem Fenster abspielte, war es fast unmöglich, irgendwas zu verstehen. Nonstop ging Glas zu Bruch; Eier, Klopapierrollen und selbst gebastelte Kunstdüngerbomben klatschten an die Häuserwände; theoretisch unstehlbare Dinge - Telefonmasten, Müllcontainer, eine Polstermöbelgarnitur aus Kunstleder - landeten auf dem immer höher auflodernden Scheiterhaufen, der aussah wie ein Leuchtfeuer, der das Ende der Welt markiert.

A
m nächsten Morgen fanden wir den Rollstuhl für Bels Stück. Er stand einfach so am Randstein, direkt vor dem Haus. Und niemand in Sicht, der hätte erklären können, wie er dahin gekommen war oder wem er vor der letzten Nacht gehört hatte. Er stand da, als hätte ihn jemand extra für uns dahin gestellt. Obwohl er inmitten von Schutt, zerfetztem Metall und den Überresten einer Katze stand, war er ziemlich intakt. Er kam uns auf eine irgendwie falsche und beunruhigende Art unversehrt vor - noch bevor wir merkten, dass irgendetwas Vertrautes fehlte. Der Karton und die Decken lagen nicht mehr auf den Eingangsstufen. Kenny, der Obdachlose, der auch während der schlimmsten Feindseligkeiten die Stellung vor dem Haus gehalten hatte, war verschwunden - auf so mysteriöse Art, wie der Rollstuhl aufgetaucht war, als hätte jemand einen fairen Tausch im Sinn gehabt. Es gab keinerlei Hinweis darauf, was passiert war, außer dass jemand seinem kleinen, verwegenen Graffiti ein tödliches schwarzes H hinzugefügt hatte. »harm the homeless«, las Droyd laut.
»Wo er wohl hin ist«, sagte ich bemüht salopp, um meine Besorgnis zu überspielen.
»Vielleicht hat er sich für die Nacht in den Park verdrückt«, sagte Frank.
»Oder ins Hotel«, sagte Droyd. »Vielleicht hat er ja was Anständiges zum Wohnen gefunden.«
Aber wir wussten, dass er das nicht hatte. Warum sonst hätten wir aufgehört zu reden? Und warum sonst hätten wir dieses Gefühl gehabt, dass um uns herum tödliche Stille herrschte, während wir den Rollstuhl die Treppe hinauftrugen.

I
n den nächsten Tagen stand der Rollstuhl in einer Ecke und funkelte mich auf eine Art und Weise an, die mir nicht behagte. Schließlich fragte ich Frank, wann er das Ding endlich aus der Wohnung schaffe. Er brummte, dass er eigentlich schon weg sein sollte, dass er aber die ganze Woche zu viel am Hals gehabt habe. Das stimmte nicht, denn fast die ganze Woche hatte er schniefend in der Wohnung herumgesessen, und das sagte ich ihm auch. Er wand sich verlegen. »Ich will da nicht allein raus, Charlie.«
»Wo raus? Nach Amaurot? Warum nicht?«
»Weiß nicht«, sagte er und senkte den Kopf. »Ich will einfach nicht.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte ich.
»Ja«, pflichtete er mir pathetisch bei. Dann hellte sich plötzlich sein Gesicht auf. »Hey, warum kommst du nicht mit?«
»Ich?«
»Ja klar, du kannst mir tragen helfen.«

J
etzt war es an mir, nach Ausflüchten zu suchen. Mein Plan war eigentlich gewesen, erst nach Amaurot zurückzukehren, wenn ich aus meinem Leben eine Erfolgsgeschichte gemacht hatte. In meiner momentan angespannten Lage wollte ich mich Mutters Ich-habÕs-ja-gewusst-Vorhaltungen und dem hämischen Grinsen der Schauspieler nicht aussetzen. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, den Anblick Bels bei einer weiteren ihrer unausgegorenen Romanzen - inklusive Getatsche und klebrigem Geknutsche - nicht ertragen zu können. Aber der Rollstuhl hatte etwas derart Unheimliches an sich, dass ich schließlich nachgab.
Frank sagte den ganzen Weg kaum ein Wort. Aus den Fingern am Lenkrad traten weiß die Knöchel hervor. Ich muss gestehen, dass auch mich leicht schauderte, als wir die Stadt Richtung Küstenstraße verließen. Der Wind wirbelte durch das heruntergekurbelte Fenster, die Häuser wichen Bäumen, die wie bleiche Streichhölzer vorbeihuschten; linker Hand brandete selbstvergessen die See ans Ufer und wogte wieder zurück, wie ein graues Gespenst, das seinen Korridor kontrolliert. Dann tauchte das Eisentor auf und die alte Rosskastanie mit der Narbe, wo Vater sie einmal spät nachts gerammt hatte. Als Frank die holperige Einfahrt hinauffuhr, löste sich ruckartig ein Schwarm Tauben aus dem Geäst.
»Sieht gut aus, die alte Hütte«, sagte er hölzern, als das Dach und die oberen Stockwerke über den Bäumen hervorlugten.
»Mmm É« Die Hütte kam mir größer vor, als ich sie in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich weil ich schon so lange in der engen Wohnung in Bonetown wohnte. Je näher wir kamen, desto mächtiger schienen sich die Mauern aufzutürmen, desto drückender schien der Schatten des Hauses auf uns und dem verrosteten weißen Lieferwagen zu lasten É Und dann - von hinten - ein aufgekratztes Tööt! Tööt!
»Was, zum Henker É?«
»Sieht so aus, als ob da einer mit der alten Mühle von deinem Dad rumkurvt, Charlie.«
»Danke, das seh ich auch.« Weißblauer Qualm quoll fröhlich aus dem Auspuffrohr des flaschengrünen Mercedes, der auf dem Rasen langsam im Kreis fuhr. »Was bildet der sich ein?«
»Hey, hallo! Hallo, Hythloday!« Wir wurden empfangen von einer Gestalt, die eine Tweedmütze und eine altmodische Rennfahrerbrille aus Leder trug.
»Das ist Harry«, sagte Frank düster. »Schwuchtel.«
»Einfach ignorieren«, sagte ich. »Idiot - seit zwanzig Jahren hat keiner mehr den Wagen aus der Garage geholt. Geschieht ihm ganz recht, wenn er ihm um die Ohren fliegt.« Ich lehnte mich zurück und schaute voller Hass auf den Rasen. »Der nimmt sich vielleicht was raus. Schau dir bloß die lächerliche Brille an. Was glaubt der, wer er ist, der Rote Baron?«

W
ir verfielen in übellauniges Schweigen und fuhren weiter bis zum Säulengang, wo wir ausstiegen, den Rollstuhl aus dem Laderaum wuchteten und ihn vor die Stufen stellten. Meine Hausschlüssel waren vor ein paar Wochen zwischen den Rückenpolstern von Franks Couch verschwunden, dem Bermudadreieck der Wohnung. Aber wenn ich mich recht erinnerte, dann hatte Mrs P noch einen Ersatzschlüssel unter dem Goldregen versteckt. Ich tappte auf Händen und Knien auf dem Boden herum, als hinter mir der Motor angelassen wurde. »Was soll das?«, sagte ich. Frank hatte sich wieder hinters Steuer gesetzt. »Kommst du nicht mit rein?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich mach mich besser wieder an die Arbeit.«
»Aber es ist Sonntag«, sagte ich. »Willst du nicht wenigstens auf eine Tasse Tee bleiben?«
»Nein, mir ist da grad noch was eingefallen, was ich unbedingt noch erledigen muss.«
»Kann das nicht noch etwas warten? Wir können den verdammten Rollstuhl nicht einfach da stehen lassen, los, komm, hilf mir beim Reintragen.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.05.2006