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Erinnerungen an die
Opfer sind noch wach

Bewegende Gedenkfeier für Erfurter Schulmassaker

Erfurt (dpa). Mit einer bewegenden Gedenkfeier haben Schüler und Lehrer des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums gestern der Opfer des Schulmassakers vor vier Jahren gedacht.
Schüler und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums gedenken der Opfer des Schulmassakers.

Unter den 1000 Zuhörern vor der Freitreppe des Schulgebäudes waren auch einige Erfurter Bürger. Die Tat sei eine Mahnung dafür, dass es für Gewalt keine Rechtfertigung gebe, sagte Schulleiterin Christiane Alt in einer kurzen Ansprache. Anschließend stellten Schüler Rosenstöcke vor die Gedenktafel mit den Namen der Opfer. Am 26. April 2002 hatte ein ehemaliger Schüler 16 Menschen, darunter zwölf Lehrer, in dem Gebäude erschossen und anschließend sich selbst getötet.
Vier Jahre nach der Bluttat werden die Trauergesten zurückhaltender. Hatten 2003 noch 10 000 Menschen mit einer Schweigeminute der Opfer gedacht, so blieb die Schule in diesem Jahr weitgehend unter sich - auf eigenen Wunsch, wie Christiane Alt betont.
Hinter den Fenstern des für knapp zehn Millionen Euro sanierten Jugendstilgebäudes steht in großen Lettern »Wir gedenken«. Die Freitreppe davor, die ebenfalls bei der Umgestaltung des Gebäudes nach der Tat angelegt wurde, wird zur Bühne: auf einer schräg gestellten Platte 16 Kerzen, davor der Gutenberg-Buchstabe G aus Sonnenblumenblüten. Der Schulchor singt »Tears in Heaven« von Eric Clapton. Schüler lesen Gedichte über Einsamkeit und Trauer und rufen zum Gebet auf. Die Mädchen lassen ihren Tränen freien Lauf, die Jungen wischen sich verschämt mit dem Handrücken die Augen. Die Erinnerungen an die getöteten Lehrer und Mitschüler sind noch wach. Auch nach der Feier bleiben Gruppen auf dem Rasen vor der Schule sitzen. Für heute ist der Unterricht vorbei.
Mit jedem Jahr, wenn wieder ein Klasse mit Zeitzeugen ausscheidet und ein neuer Jahrgang nachrückt, wird das Gedenken schwieriger, sagt Christiane Alt. »Die Erwartungen werden immer unterschiedlicher.« Das Massaker sei jedoch Teil der 100 Jahre alten Geschichte des Gymnasiums, »und wir lernen, damit zu leben«.
Als Ermutigung wertet Alt das wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl in der Schule und die Identifikation ehemaliger Schüler mit der Einrichtung. »Fast jedes Wochenende haben wir Besucher aus ganz Deutschland - die nicht aus Neugier auf den Tatort kommen, sondern froh sind, dass es ihre Schule noch gibt.« Nach dem Blutbad war kurzfristig über eine Schließung nachgedacht worden.
Mit dem Gedenktag ist auch wieder die politische Diskussion über die Konsequenzen aus der Gewalttat entbrannt. Vor allem der Abzug des Schulpsychologen, der jetzt nur noch auf Nachfrage beim Schulamt einbestellt werden kann, sorgt für Unmut.

Artikel vom 27.04.2006