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Tut mir Leid, dass ich dich unterbreche, aber ich muss gleich los zu einer Besprechung, und bevor ich vergesse, warum ich dich eigentlich angerufen habe É Ich wollte dir nur sagen, ich bin mir sicher, dass jetzt alles gut wird, für uns beide. Ich meine, bei allem, was ich gerade so durchmache, ist mir klar geworden, dass die Dinge sich ändern É dass, wenn es so aussieht, als wenn alles gegen einen arbeitet, dass genau dann irgendwas aus dem Nichts auftaucht, und plötzlich ist alles ganz anders. Das wollte ich dir bloß sagen.«
»Danke«, sagte ich steif.
»Und dann wollte ich noch É Kannst du Frank sagen, dass wir für das Stück einen Rollstuhl brauchen, und wenn er zufällig einen bei der Hand hat É«
»Ja, ja, alles klar.«
»Ich muss jetzt. Und denk dran, was ich dir gesagt habe.«
In Gedanken versunken schlurfte ich zurück ins Wohnzimmer. Frank war aus dem Bad zurück und saß jetzt zusammen mit Droyd vor dem Fernseher. Das Krachen auf der Straße hörte sich an wie feindliche Artillerie. Die beiden im flackernden Lichtschein kauernden Gestalten sahen aus wie Soldaten, die in einem Schützenloch festsaßen. »Bel will einen Rollstuhl«, sagte ich.

Gut«, sagte Frank, ohne sich umzuschauen.
Ich setzte mich aufs Sofa. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade durch einen Wirbelsturm marschiert. Ich war nicht daran gewöhnt, dass Bel sich so glücklich anhörte. Es machte mich nervös. Es war, als ob ein Auto in einem Gang fuhr, den es eigentlich gar nicht hatte. Ich fragte mich, was ihr dieser Lump da oben auf dem Dach erzählt hatte.
»É erklären die Streitkräfte, dass dies nur einer von Dutzenden ähnlicher Fundorte überall in der Region ist«, sagte der Fernseher zu den Bildern eines Soldaten, der mit dem Stiefel Erde wegscharrte, um etwas freizulegen, das aussah wie ein Haufen verblichener Stofffetzen.
Mit einem hatte sie allerdings Recht: Seit Monaten hatte ich den Tag herbeigesehnt, an dem sie Frank an die Luft setzte. Nichts wollte ich mehr, als dass sie ihn loswürde, mitsamt seinem verrosteten weißen Lieferwagen und seinen verstümmelten Satzkonstrukten. Nun, da der Tag gekommen war, sollte ich doch mit Recht einen Augenblick des Jubels oder Triumphes verspüren oder zumindest ein schwaches Gefühl von der Endlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge. Stattdessen saß ich auf dem grotesk unförmigen Sofa, wartete auf den Rausch des Sieges und fühlte mich doch nichts weiter als ärgerlich hohl.
Das war absurd! Hatte ich da etwas verpasst? War mein Leben wirklich so kompliziert geworden, dass die fundamentalen Begriffe von richtig und falsch nicht länger galten? Großer Gott, jetzt, da sich ein winziger Erfolg eingestellt hatte, erhob da meine eigene Seele Einspruch und verwandelte ihn in eine Niederlage?
»Großer Gott«, entfuhr es mir.
»Was ist, Charlie?«
»Nichts, nichts, hat bloß ein bisschen gezwickt«, sagte ich und tippte an meinen Verband. Er wandte sich wieder dem Fernseher zu und ich meinem Ringen mit der immer offenkundiger werdenden Meuterei in meinem Innenleben.

I
ch versuchte dieser entgegenzuwirken. Ich verwies auf die Fakten. Ich erinnerte mich an die ekligen Szenen, wenn er Bel befummelt hatte. Ich dachte daran, wie er meinen Turm in die Luft gesprengt hatte. Ich ließ meinen Blick über die traurig dreinblickenden Cherubim in den Regalen schweifen, über die einsamen Gartenfiguren und die untröstlichen Kommoden, die man allesamt gegen ihren Willen aus anderer Leute Häuser entfernt hatte. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich den in den Fernseher starrenden Frank, auf dessen entblößtem, ungesund zitterndem Bauch sich eine Dose HobsonÕs auf und ab bewegte. Nichts davon machte einen Unterschied. Das hohle Gefühl weigerte sich zu verschwinden.

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ie nächsten Tage waren sehr hart. Eine lähmende Depression drückte mich nieder. Ich stand wieder auf Feld eins, konnte mich aber nicht dazu aufraffen, die Arbeitssuche wieder aufzunehmen. Ich konnte mich von meiner Matratze auf dem Schlafzimmerboden zum Sofa im Wohnzimmer schleppen, zu mehr war ich nicht fähig. Jeder weitere Tag trieb mich mehr in den finanziellen Ruin, und es wurde immer schwieriger, mir auch nur vorzustellen, wie ich aus dem Loch, in dem ich steckte, wieder herauskommen sollte - was meine Depression und die Abneigung, dagegen etwas zu tun, nur verschlimmerte. Stattdessen stürzte ich mich in mein Gene-Tierney-Projekt. Ich verkroch mich in ihre Filme, verlor mich in ihnen, genau wie auch sie vor Jahren versucht hatte, sich zu verlieren. Begierig schaute ich mir jeden Film an, untersuchte sie akribisch auf Querverweise zu ihrer Biografie und erstellte so das Schaubild ihres Lebens.
Wenn man sich ihr Leben von Anfang bis Ende anschaute, wurde ziemlich deutlich, dass der Ausgangspunkt für alle später über sie hereinbrechenden Katastrophen die Ehe mit Oleg Cassini war. Das war die Grenzüberschreitung, die die Furien, die bis dahin an den Rändern ihres Lebens geschlummert hatten, aufweckten. Tatsächlich war diese Ehe die einzige rebellische Tat ihres ganzen Lebens. Sie war dazu erzogen worden, ein nettes Mädchen zu sein, und sie hatte immer genau das getan, was man ihr gesagt hatte: bescheiden mit ihrer Mutter zusammengelebt, die Gagen an die Gesellschaft überwiesen, die ihr Vater für sie gegründet hatte, von ihm für die kleinste Extravaganz einen Anschiss kassiert. Und dann kam Cassini des Wegs.

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leg Cassini war Russe, der Sohn einer Gräfin, die nach der Niederlage der Weißen Armee nach Amerika geflohen war. Außerdem war er Modeschöpfer und Playboy und hatte nicht in Yale studiert. Hätten sich Genes Eltern zusammengesetzt und einen passenden Ehemann für sie entworfen, dann wäre das Ergebnis das genaue Gegenteil von Cassini gewesen. Sie waren nicht gewillt, diese Romanze gutzuheißen. Sollte sie Cassini heiraten, drohte ihr Vater, würde er sie für geistig unzurechnungsfähig erklären lassen. Und die Studios spielten mit. Den Studios widersetzte sich in jenen Tagen niemand. Sie hatten dich gemacht, sie konnten dich auch genauso leicht wieder vernichten. Aber Gene war verliebt.

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ie dachte sich, wenn sie erst mal verheiratet wären, und es gab nichts und niemanden, der sie noch davon abhalten konnte, dann würden sich alle schon wieder beruhigen. Also brannten sie inkognito nach Las Vegas durch. Noch am Abend des Hochzeitstags kehrte Gene nach Los Angeles zurück; sie und Oleg waren übereingekommen, diplomatisch vorzugehen und die Nacht nicht gemeinsam zu verbringen. Doch als sie zu Hause eintraf, hatte ihre Mutter schon alle Hausangestellten entlassen und war nach Hause geflogen, nach New York. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Eltern und Studios taten sich jetzt zusammen. Paramount feuerte Cassini, und Genes Studio, Fox, weigerte sich, ihn zu beschäftigen. Inzwischen klagten ihre Eltern gegenüber der Presse, dass Cassini ihre Tochter ausnutze, und versuchten die Eheschließung annullieren zu lassen. Plötzlich fanden sich die frisch Vermählten auf der schwarzen Liste von Hollywoods Society wieder, im Stich gelassen von allen Freunden. Cassini blieb arbeitslos, während Gene ohne Unterbrechung arbeitete und sie sich immer seltener sahen. Als der Druck Wirkung zeigte, riefen Vater und Mutter zu jeder Tages- und Nachtzeit an und versuchten sie zu überreden, Cassini zu verlassen. Obendrein stellte Gene während der Dreharbeiten zu Heaven Can Wait fest, dass sie schwanger war.

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merikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg hatte offenbar den Effekt, dass das private Chaos vorübergehend in den Hintergrund trat. Die alten Streitigkeiten ruhten, die Nation stürzte sich voller Elan in den Kampf. Der ritterliche Cassini ging zur Kavallerie; Gene warb wie viele andere Stars für den Verkauf von Kriegsanleihen. Sie tourte durchs Land, sprach in Fabriken und auf öffentlichen Kundgebungen. Eine Woche, bevor sie nach Kansas reiste, wo Cassinis Division stationiert war, trat sie in der Hollywood Canteen als Entertainerin für die Marines auf. Ein paar Tage später erfuhr sie, dass sie an Röteln erkrankt war.

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hre Schwangerschaft hatte sie geheim gehalten, da die Studios die bei ihnen unter Vertrag stehende Schauspielerinnen nicht weiterbezahlten, wenn sie schwanger wurden. 1943 war der Zusammenhang zwischen Röteln in der Frühphase der Schwangerschaft und Gehirnschäden bei Neugeborenen noch unbekannt. Gene hatte im Oktober eine Frühgeburt. Das Mädchen, dem sie den Namen Daria gab, wog zweieinhalb Pfund.
Ein Jahr später berichteten die Zeitungen über die Rötelnepidemie in Australien, die anscheinend eine Generation von geistig zurückgebliebenen Kindern hervorgebracht hatte, und Gene begann zu akzeptieren, dass ihr Kind möglicherweise kein Spätentwickler war, sondern ernsthafte Probleme hatte. Teure Spezialisten wurden konsultiert. (Die Kosten trug Genes alte Flamme Howard Hughes, der sich später, durch einen Flugzeugabsturz entstellt, aus der Öffentlichkeit zurückzog.) Sie sagten alle das Gleiche. Die Schädigung sei schon im Mutterleib aufgetreten und könne nicht behoben werden. Das Beste für alle Beteiligten sei, das Kind in einem Heim unterzubringen.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.05.2006