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Die Restauration der alten Verhältnisse in Putins neuem Reich ist
im vollen Gang.

Leitartikel
Merkel reist nach Tomsk

Die Distanz zu Putin pflegen


Von Jürgen Liminski
Das Datum der deutsch-russischen Konsultationen von heute an im sibirischen Tomsk ist doppelt bedeutend. Die Katastrophe von Tschernobyl vor genau 20 Jahren wirft auch politische Fragen auf: Wie zuverlässig ist Moskau als Energiepartner und wie sieht es aus mit der Informationspolitik in Putins Reich, gibt es Pressefreiheit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit?
Bundeskanzlerin Angela Merkel sind diese Fragen bewusst. Man kann sie Wladimir Putin nicht direkt stellen, sie führen nur zu Ärger. Aber wer sie kennt, weiß auch: Die Restauration in Putins Reich ist im vollen Gang. Russlands Präsident entwickelt sich zu einer Mischung zwischen Zar und rotem Pinochet. Nach innen werden Versammlungs-, Religions-, Presse-, Meinungs- und parlamentarische Freiheiten abgebaut, nach außen gibt er sich kämpferisch und imperial. Bürger werden aufgerufen, wieder Spitzeldienste zu übernehmen, die Schatten des Überwachungsstaates werden länger, der »Stukatsch«, der Klopfer oder Zuträger aus der Stalin-Zeit feiert Auferstehung.
Merkels Vorgänger begegnete Putin mit jovialen Gesten, Lobeshymnen und fraternisierenden Parolen vom Kampf gegen den Terrorismus, auch wenn damals wie heute offenkundig ist, dass Putin in Tschetschenien de facto eine Politik der verbrannten Erde und des Völkermords betreibt und im Fall Iran mit dem atomaren Feuer spielt.
Da darf man sich insgeheim schon die Frage stellen, wohin treibt dieses Russland? Baut Putin in Tomsk auch potemkinsche Dörfer?
Hinter den Fassaden findet ein altes ungeschriebenes Gesetz, eine allgemeine Erkenntnis wieder Anwendung: Macht bricht Recht.
In seinem philosophischen Entwurf »zum ewigen Frieden« hat Immanuel Kant das so ausgedrückt: »Es ist nicht zu erwarten, dass Recht vor der Macht komme. Es sollte so sein, aber es ist nicht so.« Die Lösung wäre die Machtteilung, wie Charles de Montesquieu und andere es forderten. Dieses als Gewaltenteilung in die Geschichte eingegangene und in Europa und Nordamerika praktizierte Prinzip kennt Russland nur noch in Ansätzen und muss heute erkennen, dass das Riesenreich unter dem Trunkenbold Boris Jelzin der Demokratie vermutlich näher war als unter dem jetzigen sphinxenhaften Herrscher aus den Kellern des KGB.
Willkür greift schon seit Jahren um sich in Putins Reich. Die Manipulationen und Täuschungen in der Informationspolitik nach dem Geiseldrama von Beslan erinnerten an Tschernobyl. Die Drohungen des staatlichen Energieriesen Gasprom jetzt erinnern an die Pipeline-Diskussionen der achtziger Jahre.
Frau Merkel kennt die Russen. Ihr kann Putin nichts vormachen. Ihre freundliche Distanz zum Restaurator im Kreml macht ihn unsicher - und schafft Vertrauen in Washington, Paris und London, vielleicht sogar auch in Peking. Das allein ist schon die Reise nach Sibirien wert.

Artikel vom 26.04.2006