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Die Kleine war da«, sagte Droyd missbilligend.
»Welche Kleine?«
»Die ohne Titten«, führte er aus. »Deine Schwester.«
»Wirklich? Verdammt, warum hat er mir nichts davon É He!« Als ich ins Wohnzimmer stürmte, verschwand Frank gerade im Bad und schob den Riegel vor. Ich hämmerte empört gegen die Tür. »He!«
»Besetzt.« Die Stimme klang schwach.
»Du hast mir nicht gesagt, dass Bel da war.«
»Ach ja, stimmt.« Die Stimme hörte sich an, als erinnerte er sich nur dunkel. »Du sollst sie anrufen.«
»Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt? Was wollte sie hier?«
»Äh É nichts«, sagte die gebrochene Stimme. »Hat ein paar Sachen zurückgebracht, hatte ich ihr für das Stück geliehen. Ach ja, und dann wollte sie mir noch sagen, dass Schluss ist mit uns.«
»Sie É oh.« Stimmt, er war etwas still gewesen zuletzt.
»Hatte mir schon so was gedacht. Trotzdem, war nett, dass sie extra hergekommen ist, jetzt weiß ich wenigstens, was Sache ist.«
»Ja«, sagte ich. Ein paar Sekunden verstrichen. Ratlos starrte ich die rissige weiße Farbe auf der Tür an. »Du willst dich nichtÉ ich meine, du hast nicht die Absicht É«
»Ich, Charlie? Ach was. Ich bin fit wie Õn Turnschuh.« Ich hörte, wie auf der anderen Seite der Tür eine Dose aufgerissen wurde, dann Schluckgeräusche. Ich wollte nicht weiter in ihn dringen und stahl mich davon.

B
el war derart überdreht, als sie den Hörer abnahm, dass ich mir sicher war, es musste etwas passiert sein. Und als sie sagte, dass sie ganz aus dem Häuschen sei, weil ich endlich anrief, war ich aufs Höchste alarmiert. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte ich. »Und du bist nicht mit dem Kopf am Türpfosten hängen geblieben oder so?«
»Natürlich nicht, ich will bloß mit dir reden, das ist alles. Oh, Charles, es ist etwas Wundervolles passiert, das muss ich dir unbedingt erzählen É«
»Ach ja?«, sagte ich scharf. Ich hatte gelernt, auf der Hut zu sein, wenn Bel mir etwas Wundervolles ankündigte.
»Ja, es geht um Harry. Du erinnerst dich doch an Harry, oder?«
»Natürlich. Wie könnte ich den alten Harry vergessen? Er ist doch hoffentlich nicht von einer Klippe gestürzt, oder ein Adler hat sich ihn gekrallt É«
»Sei nicht albern, nein, er hat É« Sie holte tief Luft. »Er hat mir die Hauptrolle in seinem Stück gegeben.«
»Ach, hat er? Schön, schön, gratuliere.«
»Ich weiß es erst seit gestern Abend. Ist das nicht toll?«
»Absolut«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sein Entschluss nicht genauso einem krankhaftem Anfall geschuldet war wie das, was da vom anderen Ende der Leitung an mein Ohr drang. »Aber hattest du nicht auch schon im letzten Stück die Hauptrolle?«

D
as war was anderes, das hatte er für das ganze Ensemble geschrieben. Aber das neue É ich meine, er hat jahrelang daran gearbeitet, und gestern Abend hatten wir dieses wahnsinnig tolle Gespräch, und danach hat er mir gesagt, dass er erst jetzt begriffen habe, dass er es eigentlich für mich geschrieben hat, fast so, als wärÕs ein Stück über mich, und erst jetzt sei ihm aufgegangenÉ«
»Na bravo«, sagte ich - ein Versuch, ein klein wenig Feuer zu zeigen. »Und was ist mit Mirela, spielt sie auch mit?«
»Ach, Mirela«, sagte Bel ungeduldig. »Ich will jetzt nicht über Mirela sprechen.«
»Aber sie ist doch auch dabei, oder?«, sagte ich hoffnungsvoll drängend.
»Ja, ja, aber das ist doch jetzt nicht so wichtig. Wichtig ist, was ich dir von dem tollen Gespräch erzählen wollte, das ich gestern Abend mit Harry hatte É« Von draußen waren das zänkische Knattern von Knallfröschen und das klirrende Geräusch einer zerschellenden Glasscheibe zu hören. Ich setzte mich auf den Boden. »Na ja, dann erzähl schon«, sagte ich zögernd.

A
lso, gestern Abend haben wir das letzte Mal das Stück gespielt. Hinterher hatten wir im Theater in der Stadt die Abschlussparty. Aber mir war gar nicht nach Feiern, irgendwie war es traurig, das Ende unseres ersten Stücks, die erste Sache, die wir zusammen auf die Beine gestellt haben. Egal, ich erzähl das also Harry, und er sagt, komisch, genau das Gleiche hat er gerade auch gedacht, und ob wir nicht einfach verschwinden sollten? Also haben wir uns verdrückt. Über die Feuerleiter sind wir rauf aufs Dach. Es war wunderschön, Charles, der Blick über die ganze Stadt, so friedlich, der Himmel voller Sterne, ich hab einfach gewusst, dass was passieren würde É«
»Und das war?«, warf ich behutsam ein.
»Na ja, das tolle Gespräch, das wir dann hatten.«
»Oh«, sagte ich.
»Es war einfach É«, sagte sie träumerisch. »Es war so É Hast du schon mal mit jemandem gesprochen, und du hast dich so mit der Person verbunden gefühlt, dass du auf einmal nicht genau gewusst hast, wer von euch beiden eigentlich spricht, weil ihr redet und redet, und es kommen all deine Gedanken raus, die du vorher noch nie in Worte fassen konntest? So war das mit Harry. Zum Beispiel all diese Sachen über den Kirschgarten, als ich damals die Rolle nicht bekommen habe É über die Stanislawskij-Methode, dass man Tschechow nicht spielen kann, dass man ihn leben muss. Tschechow habe ich in Amaurot praktisch drei Jahre lang gelebt, nur dass ich das nicht erkannt habe É Ich wollte jemand ganz anders sein, dabei war ich schon genau das, was die für das Stück brauchten É Mein Gott, er ist so scharfsinning É Es war, als würde sich mein Herz laut zu Wort melden und mir genau sagen, was es denkt, und das ist alles so verrückt, weil wir uns ja jetzt schon Jahre kennen, und plötzlich finden wir raus, dass wir uns so ähnlich sind É bei so kleinen Sachen wie, dass wir beide Doris Day mögen und Mozart und Hart Crane É und dann der singende Wind in den Hochspannungsleitungen É« Sie hielt inne und sagte dann noch einmal, als könne sie das alles selbst nicht glauben: »Mein Gott.«
»Andererseits É dein Herz war ja auch vorher schon nicht gerade stumm«, fühlte ich mich bemüßigt anzumerken.

J
a, sicher, aber du weißt doch, wie es war nach dem College«, sagte sie. »Eingebunkert in dem Haus hier draußen, hab ich doch gar nicht mehr gemerkt, ob ich noch lebe - wie in einem kleinen, abgetrennten Bereich direkt neben dem Leben oder irgendwie am Leben entlang, aber eben nicht drin. Und jetzt, auf einmal, in einem einzigen Augenblick, steht alles offen. Ich meine, es ist alles so aufregend, findest du nicht auch?«
»Was ist mit Frank?«
»Was?« Sie stürzte aus ihrem schwärmerischen Redeschwall. »Was meinst du, was ist mit Frank?«
Ich zögerte. Ich wusste nicht, was ich damit meinte. Es war mir einfach so herausgerutscht.
»Seit wann interessiert dich, was mit Frank ist?«, sagte sie.
Plötzlich war ich ziemlichdurcheinander. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Kommt mir ein bisschen salopp vor, so wie du ihn behandelst, das ist alles.«
Sie stöhnte. »Charles, du fängst jetzt nicht wieder damit an, verstanden?«
»Ich fang überhaupt nichts an«, sagte ich. »Aber vor ein paar Wochen wolltest du noch unbedingt bei ihm einziehen. Und außerdem É du magst Doris Day überhaupt nicht.«
»Was?«

D
oris Day, du kannst sie nicht ausstehen. So weit ich mich zurückerinnern kann, hast du jedes Mal, wenn ÝQue Sera SeraÜ im Radio lief, so pubertäre Kotzgeräusche gemacht. Und letztes Jahr, als ich mir Bettgeflüster angeschaut habe, da hast du gesagt, sie sieht aus wie ein arisches Sexpüppchen«
»Und, was sollÕs? Spielt das irgendeine Rolle?«
»Und was ist mit Mozart? Ich kann mich noch genau erinnern, wie du mir gesagt hast, dass man Leute, die Mozart mögen, zu lebenslänglich Fahrstuhlfahren verurteilen sollte. Und das mit den Hochspannungsleitungen, eigentlich alles Sachen, die du angeblich gemein hast mit É«
Die Menschen ändern sich, oder nicht?«, sagte sie. »Warum bist du bloß so? Kannst du dich nicht einmal mit mir freuen, anstatt an allem herumzukritteln? Selbst bist du ganz gaga wegen Mirela, mal wieder eine von deinen idiotischen Spinnereien, aber monatelang an Frank rumnörgeln. Jetzt hast du doch, was du wolltest. Ich meine, was genau willst du eigentlich?«
Wieder hatte ich keine Antwort parat. Eine Leuchtkugel rettete mich. Sie explodierte direkt vor dem Fenster, tauchte die Schlafzimmerwand in ein höllisches Rot und verursachte ein Grollen, das sekundenlang nachhallte. »Was, zum Teufel, ist da los bei dir?«, hörte ich von weit her ein knackende Stimme fragen. »Hört sich an, als stürmten die Bauern die Zinnen.«
»Das ist schon erledigt«, sagte ich niedergeschlagen. »Jetzt steigt gerade die Siegesfeier.«
Sie lachte. »Mein armer Charles«, sagte sie. »Und obendrein noch Bel, die dich anschnauzt. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dich diesmal nicht anzuschnauzen. Ich hab dich noch nicht mal gefragt, wie es dir geht. Wie gehtÕs dir?«
»Na ja, es É«
»Charles«, fiel sie mir gleich wieder ins Wort. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.05.2006