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Während die Kellnerin von Tisch zu Tisch ging und das schmutzige Geschirr auf ihr Tablett türmte, tauchten vor mir aus dem Regen die alten Gesichter auf - wie eine Schauspieltruppe, die nach dem Stück vor den Vorhang tritt.
Auf Patsy waren wir alle scharf gewesen, natürlich, auch wenn keiner von uns je behauptet hatte, sie wirklich gekannt oder verstanden zu haben. Sie war wie der Mond, der alle Tierkreiszeichen durchwanderte. Reihum schenkte sie jedem von uns ihre Zuneigung, blieb aber immer unnahbar. Ihre Liebe übte einen rätselhaften Einfluss aus, den man zwar nicht richtig benennen konnte, aber an ihrer Liebe zu zweifeln, traute man sich auch nicht. Im Nachhinein ist offensichtlich, dass sie sich in ihrer eigenen Umlaufbahn ziemlich wohl fühlte. Von da aus konnte sie amüsiert das von ihr angerichtete Chaos beobachten, die Windstöße und Stürme und all die anderen anomalen Wetterbilder, die ihr sonderbarer Magnetismus hervorrief. Aber jeder von uns hatte gehofft, dass er derjenige sein würde, der sie schließlich zur Erde zurückholte.
Die Chance für mich war in jenem Frühjahr gekommen. Inmitten farbenprächtiger Glockenblumen und Vergissmeinnicht, mehr oder weniger buchstäblich, stand sie eines Tages neben mir. Keine Ahnung, wie sie dahin gekommen war, aber ich stellte keine Fragen. Wie jeder andere auch verfiel ich augenblicklich ihrem Zauber.

Ich weiß nicht mehr genau, was wir zusammen taten oder über was wir redeten. Möglich, dass wir nichts taten und nichts sagten. Die Zeit an sich schien verzaubert. Es war ein Abend ohne Anfang und Ende, Hand in Hand trieben wir dahin, wie in einem wunderschönen Traum. Und wenn sie sich auch nie ganz preisgab und ein Teil von ihr auch immer irgendwo anders zu sein schien, so nahm ich doch an, dass das alles nur eine Frage der Zeit sei. In meinen einsamen Stunden lernte ich wie besessen Yeats auswendig, suchte Erkenntnis, suchte nach der einen Zeile, die sie mir erschließen würde.
Das Problem war, dass dieser eine Teil, von dem ich glaubte, er sei immer irgendwie irgendwo anders, dass der normalerweise ziemlich präzise bei Hoyland Maffey war. Tatsächlich war Hoyland permanent mit uns zusammen und wurde mit uns Zeuge dieses spektakulären Frühlings. Mir kam es ziemlich unorthodox vor, dass zwei Menschen, die sich ihre Liebe schenkten, fast während der ganzen Schenkungsperiode von einem Dritten begleitet wurden. Schließlich sagte ich das Patsy.
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass normalerweise die beiden für sich allein sind.«
»Aber Hoyland ist doch ein Freund von uns beiden, Charles. Ein Busenfreund. Es ist nicht fair, ihn außen vor zu lassen, nur weil wir beide so schrecklich ineinander verliebt sind.«

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ie Art, wie sie Busen sagte, hätte wahrscheinlich schon gereicht. Aber als sie ohne jede Aufforderung weiterredete und abstritt, dass da jemals irgendwas zwischen ihr und Hoyland gewesen sei, da waren meine letzten Zweifel dahin. In diesem Augenblick wusste ich, dass sie Hoyland genau die gleiche Geschichte über mich erzählte. Ich wusste, dass sie wusste, dass ich es wusste, und ich wusste, dass Hoyland es auch wusste.
Der verzauberte Frühling wurde schnell ein vergifteter. Jeder Augenblick war überschattet von Argwohn und Täuschung. Immer wieder, wenn Patsy und ich in Amaurot allein in der Bibliothek waren - auf dem Kaminsims brannte demütig eine Kerze, scheinbar unausweichlich näherten wir uns dem Augenblick der ekstatischen Vereinigung -, klingelte es an der Haustür, Patsy sprang vom Billardtisch auf und sagte, als hätten wir gerade eine langweilige Partie Scrabble gespielt: »Ah, das ist sicher Hoyland.« Und dann stand er da, ein Spiegelbild meiner selbst mit seinem freudlos verzerrten Gesicht und seinen nervös umherblickenden Augen. »Hallo, Hythers, hab mir gedacht, ich schau mal eben vorbeiÉ«
»Ha, ha, alter Junge, schön dich zu sehen, irgendwas zu trinken?«
Es dauerte nicht lange, und mein Hass auf Hoyland hatte meine Liebe zu Patsy völlig verdrängt. Jede Stunde, die wir getrennt waren, quälte mich die Vorstellung, dass die beiden zusammen waren. Und wenn wir zusammen waren, schwankte ich hin und her zwischen verzweifelten Versuchen, sie zu beeindrucken, und ebenso verzweifelten Versuchen, ihre wahren Gefühle zu ergründen. Ich verbrachte Stunden damit, jedes zarte Schniefen, jedes zweideutige Hüsteln, die Bedeutung jeder auch nur halb gelupften Augenbraue zu entschlüsseln. Patsy hatte natürlich gar keine wahren Gefühle. Oder wenn sie welche hatte, dann hatten sie nichts mit uns beiden zu tun. Aber selbst wenn mir das klar gewesen wäre, hätte es kaum einen Unterschied gemacht. Wichtiger als alles andere war jetzt, dass ich meinem früheren Freund die Tour vermasselte.
Schließlich, so gegen Ende April, spitzte sich die Lage zu. Patsy reiste wegen einer Semesterarbeit über Raffael und seine Kurtisanen für ein paar Wochen nach Rom. Ich hatte eine Abschiedsparty auf die Beine gestellt und Hoyland mit seinem Versuch einer Konkurrenzparty dadurch ausgestochen, dass ich Patsys Lieblingsjazztrio aus Dublin engagiert hatte. Eine Soirée allererster Güte - hat man mir später zumindest erzählt. Eine drückend schwüle Nacht, der ein silberner Vollmond präsidierte. Alle Arten von trunkenheitsbedingten Vergnügungen fanden auf dem Rasen statt, inklusive eines Striptease (angeblich!) von Bels alter Schulfreundin Bunty Chopin, die sich erst zufrieden gab, als sie nur noch ein paar Pfauenfedern in der Hand hielt.

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oyland und mir waren die Feierlichkeiten egal. Wir saßen die ganze Nacht in unseren Sesseln, die in gegenüberliegenden Ecken des Musikzimmers standen, starrten uns hasserfüllt an und standen nur auf, um Whisky nachzuschenken. Hin und wieder riss Patsy sich von dem im Garten aufspielenden Trio los, schwirrte herein und drapierte sich über einen von uns eigens in der Absicht, den Undrapierten im gegenüberliegenden Sessel in Rage zu versetzen, was unweigerlich gelang.

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m vier Uhr erreichten Hoyland und ich zeitgleich die Anrichte, auf der die Karaffe mit dem Whisky stand, und mussten feststellen, dass es nur noch für ein Glas reichen würde. Wir schauten uns an. Die Festgesellschaft - die Stimmen, die auftrumpfende Trompete, das Johlen vom Rasen - schien nicht mehr zu existieren. Es gab nur noch uns beide - festgefahren.
»Bedien dich«, sagte ich.
»Nein, nein, nimm du«, erwiderte er.
»Mein lieber Freund, du bist der Gast.«
»Ist schon okay, ehrlich, ich hatte sowieso genug.«
»Ach ja, wirklich?
»Ja, absolut.«
»Nun ja, in dem Fall, ich auch.«
»Tja, in dem Fall würde mich interessieren, was du jetzt zu tun gedenkst.«
»Ich É ähÉ« Der Ball lag in meinem Feld, aber mir fiel absolut nichts ein. Der Whisky hatte mein Hirn in einen Heißluftofen verwandelt. Das Geflüster um mich herum hörte sich an wie knisterndes Kaminfeuer. In diesem Augenblick kam Patsy - »Sophisticated Lady« flötend - durch die Halle auf uns zu, und gleichzeitig fiel mir auf, wie der Zufall so spielt, dass eins der Mädchen seine Handschuhe auf dem Klavier hatte liegen lassen. Ich schnappte mir einen davon und warf ihn Hoyland vor die Füße. Der Raum hielt den Atem an. »Ich fordere dich zum Duell, das tue ich«, sagte ich.
Hoyland schaute verdutzt. »Wirklich?«, sagte er.
»Nun jaÉ«, sagte ich unsicher. In dieser Sekunde kam Patsy herein und fragte ein Mädchen, was los sei. »Charles wollte, dass Hoyland sich den letzten Whisky nimmt, aber Hoyland wollte, dass Charles ihn nimmt, also hat Charles Hoyland zum Duell gefordert«, sagte das Mädchen.
»Oh«, sagte Patsy. Sie schien beeindruckt zu sein.
»Ja«, sagte ich zu Hoyland.
»Gut«, sagte Hoyland. Er hatte Zeit genug gehabt, sich wieder zu fassen, und polierte hochnäsig seine Manschettenknöpfe. »Degen oder Pistole?«
»Natürlich Pistole«, sagte ich und fügte geringschätzig hinzu: »Degen.«
Die Vorbereitungen waren schnell erledigt. Jemand holte die antiken Pistolen, die geladen in Vaters Schreibtisch im Arbeitszimmer lagen - ein Geheimnis, das Bel und ich eigentlich gar nicht kennen durften. Feierlich wählten wir unsere Sekundanten aus: Boyd Snooks war meiner, Fluffy Elgin Hoylands. Nachdem er vergeblich versucht hatte, uns die Sache auszureden, erklärte Pongo sich bereit, den Schiedsrichter zu machen. Alle anderen, inklusive Patsy, wurden gebeten, drinnen zu bleiben. Um fünf verließen wir durch die Hintertür das Haus.

W
ir marschierten durch das hohe Gras zum Pavillon, den das Jazztrio gerade erst geräumt hatte. Am Himmel zeigte sich ein Hauch Rosa, und in den Zweigen zwitscherten die ersten Vögel. Fluffy Elgin kicherte in einem fort. Hoyland stand unter dem Apfelbaum, in den er seinen Blazer gehängt hatte, und schaute mich verwundert an. Pongos schrille, angespannte Stimme durchschnitt die Stille des Morgens. »Gentlemen«, sagte er, winkte uns vor dem Pavillon zu sich, verlangte, dass wir uns die Hände schüttelten, und hielt dann die Mahagonikassette hoch: »Wählt eure Waffen.«
Die Pistole war schwer, glänzte matt und hatte einen langen Lauf.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.05.2006