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Doppelter Volksmund

»Wer die Schule
hat, hat das Land.«
»Schule ist
Ziehhaus, nicht Zuchthaus.«

Leitartikel
Katastrophen statt Reform

China vorn
- in Schrift
und Tat


Von Rolf Dressler
Gegenwärtig setzt namentlich der Welt-Riese China - immer mehr anderen Ländern bereits weit voraus - zum großen Überholsprung in die Zukunft an. Diese Erfolgsgeschichte hat viele »Väter«. Vor allem natürlich menschliche, politische und wirtschaftliche Energie und Willenskraft.
Über einen anderen ausschlaggebenden Antrieb aber spricht hört man auch hier im bildungsreformgeschädigten Ex-Wirtschaftswunder-Deutschland so gut wie gar nichts: Gerade weil chinesische Schüler ein ungleich schwierigeres Schriftsystem zwingend erlernen müssen, erbringen sie später im Beruf vergleichsweise herausragende Leistungen.
Mindestens 2000 der insgesamt sage und schreibe 40 000 Bildzeichen muss jedes Mädchen und jeder Junge sicher beherrschen. Denn nur dann lässt sich, je nach der Position eines Wortgebildes im Satzganzen, der Sinnzusammenhang eines Textes erkennen und verstehen.
Dieses frühe Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Intelligenztraining ist für eine vor Tatendrang sprühende und rasant aufstrebende Nation wie China mit Geld überhaupt nicht zu bezahlen. Es verändert schon jetzt beeindruckend und im Eiltempo Chinas Volkswirtschaft und damit Gesellschaft, Politik und Kultur. Und es wird in der Folge mit Sicherheit sogar das Welt(wirtschafts)-Machtgefüge noch viel stärker verändern, als man es sich in den »alten« Industrie-Vorreiterländern vorzustellen vermag.
Speziell auch wir Deutsche plagen uns derweil nun schon mehr als drei Jahrzehnte lang mit den katastrophalen Auswirkungen der Bildungs- und Schul-Reformitis herum. Dabei handelt es sich um ein Vollbeschäftigungsprogramm, auf das die davon böse Ge- beutelten liebend gern verzichten würden. Zuvorderst diejenigen, die praktisch nie nach ihrer Meinung gefragt werden: die Schülerinnen und Schüler, mit denen grüne und rote »Reform«-Ideologen seit Jahrzehnten sozusagen Menschenversuche am lebenden Objekt verüben. Das weisen sie zwar entrüstet von sich. Es ist aber die traurige Wahrheit.
Unwirtliche und unpersönliche Mammutschul-»Fabriken« im Dickicht einer überbordenden Allregelungs-Bürokratie; zutiefst verunsicherte Kinder, die zu Aggression und Aufsässigkeit Zuflucht nehmen; grobe Missachtung der Naturwissenschaften und parallel dazu Vernachlässigung sogar des elementaren Deutsch-Unterrichts usw. Das »Reform«-Sündenregister ist ellenlang, und das ganze Land leidet bleischwer darunter.
Doch kein einziger der ideologisch verbohrten Volksverdreher im Tarngewand von Volksvertretern wird je zur Rechenschaft gezogen für das, was er maßgeblich mitangerichtet hat an Millionen unserer Kinder. Längst sitzen sie in den Schlüsselpositionen von Politik und Kultusbürokratie - und haben ihre Schäfchen auch materiell locker im Trockenen.
Was Wunder, dass der Allzeck-Ruf nach »Reform! Reform! Reform!« vielen zu Recht verdächtig schal in den Ohren klingt.

Artikel vom 22.04.2006