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Fünf Jahre! Ich sah mich in der Zukunft als jemanden, der die Verworrenheit dieser komplexen Welt gemeistert hat, und ich sah das annehmliche Drum und Dran, das mein erfolgreiches Leben mit sich brachte. Ich sah mich in einer prachtvollen Luxuswohnung mit Art-déco-Drucken und verspiegelten Decken und automatischen Fenstern mit Blick über die ganze Stadt. Und dort saß ich dann an meinem Computer und tippte mit leichter Hand E-Business-Lösungen. Ich stellte mir die eleganten Bars vor, wo ich mit meinen neuen Freunden Gimlets trank, und wie wir am Wochenende auf die Gokart-Bahn gingen oder ins Theater, um uns Cats anzuschauen. Ich sah ausgeruht und zufrieden aus. Für alles war gesorgt; das Leben war schön. Aber dann dachte ich, fünf Jahre? Wie würde es wohl in fünf Jahren in Amaurot aussehen? Und sofort löste sich das Paralleluniversum meiner erfolgreichen Karriere in Luft auf, und ich sah mich wieder in einer Hausjacke durch den Obstgarten schlendern und mit einem kräftigen Knüppel die Brennnesseln wegschlagen; ich sah Bel, die mit einem dicken Manuskript in der Hand auf dem Rasen hin und her geht und den Text für das nächste Vorsprechen vor sich hinmurmelt; ich sah Mrs P, die mit einer Karaffe Limonade in der Tür steht; und ich sah Mutter und Mirela und all die anderen, die einfach da sind und keinen Gedanken daran verschwenden, wie oder warum oderÉ
»Charles?«

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a?« Ich schaute Gemma verwirrt an. »Ah ja, richtig, fünf Jahre. Na ja, irgendwo halt, nirgendwo speziell.«Gemma seufzte. »Charles, so geht das nicht. Wie soll ich etwas für Sie finden, wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wohin Sie überhaupt wollen? Der Arbeitgeber von heute will Engagement. Er will sicher sein, dass Sie seine Träume und Ziele teilen. Weil das nämlich die Wurzel dieses Booms ist, Charles. Es geht nicht nur um amerikanisches Risikokapital und die drastisch reduzierten Unternehmenssteuern, die wir hier in Irland haben. Es geht darum, dass sich junge, begabte Menschen zusammentun, um einen Traum zu leben. Verstehen Sie, Charles?Einen Traum! Es reicht nicht, dass einer von der Straße reinkommt und sein Stück vom Kuchen will, er muss auch wissen, was der Kuchen überhaupt ist, Charles. Was ich meine É wollen Sie den Kuchen überhaupt?«
»Nun ja, ich will essen«, sagte ich erregt. »Und ich würde auch ganz gern wieder in einem Bett schlafenÉ«
»Natürlich wollen Sie das!«, sagte Gemma. »Natürlich wollen Sie eine schöne Wohnung und ein großes Auto. Wer will das nicht? Aber ihr künftiger Arbeitgeber erwartet mehr als das. Und wenn ich ihm das hier faxeÉ« - sie hielt das Bewerbungsformular hoch - »Édann, fürchte ich, wird er darin nicht die talentierte, visionäre Persönlichkeit sehen, die Sie ja sind, wie ich weiß, sondern jemanden, dessen Leben vor drei Jahren einfach stehen geblieben ist.«

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ch wurde bleich. Stehen geblieben? Wie konnte sie so etwas behaupten, wo doch so viel passiert war? Bels Collegezeit, der nicht aufzuhaltende Strom ihrer Männer, meine Bemühungen, die Vornehmheit der Renaissance wieder aufleben zu lassen, Mutters Zusammenbruch, Mrs Ps Zusammenbruch, Vaters Tod und all das Wehklagen bei der grauenvollen BeerdigungÉ
»Okay«, sagte Gemma aufgekratzt und klopfte sich mit den Händen auf die Schenkel. »Ich möchte mich nochmals für Ihren Besuch bedanken, Charles. Dies ist kein endgültiger Abschied, da bin ich mir ganz sicher. Wir sehen uns wieder, wenn Sie sich darüber klar geworden sind, was Sie wollen.« Die Fotos auf dem schwarzen Brett schienen einen Stich ins Melancholische angenommen zu haben, als hätten die Personen darauf mir alle den Rücken zugekehrt. »Da draußen gibt es einen Platz für Sie, Sie müssen ihn nur wirklich wollen.«
»Was?«, sagte ich benommen. »OhÉ« Erst jetzt sah ich die Hand, die sie mir entgegenstreckte. Ich schüttelte sie schlapp und stand auf.
»Bis bald«, sagte sie und deutete zur Tür.
»Bis bald«, sagte ich.
»Bis bald«, sagte die wunderschöne Empfangsdame, als ich den Vorraum durchquerte. Der Duft des Spanischen Flieders begleitete mich noch ein kleines Stück die Straße hinunter.

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ie Stadt kam mir nun ziemlich verändert vor. Die Sonne war verschwunden, und ein stahlgrauer Himmel hing drohend über den Straßen. Überall ächzten Kräne, schnauften Bohrmaschinen, vibrierten Presslufthämmer. Der Lärm war ohrenbetäubend, und mit jedem Schritt wurde er unerträglicher - das Dröhnen, das Gedränge, die endlose Parade fremder Gesichter, von denen mich jedes einzelne für den Bruchteil einer Sekunde fragend anschaute, bevor es wieder mit der formlosen Menschenmenge verschmolz.
Als ich durch die Clare Street ging, sah ich eine Busladung älterer Amerikaner, die Regenoveralls trugen, die wie Weltraumanzüge aussahen, und die in einer Meute teiggesichtiger Schulkinder festsaßen. Um das Hindernis zu umgehen, bog ich durch das Tor am Lincoln Place in meine ehemalige Alma Mater ein. Noch in derselben Sekunde bereute ich es, denn nicht mal das Trinity College war von den Verwüstungen des neuen Zeitalters verschont geblieben. Sandstrahlgeräte attackierten das Museum Building, und am Westrand des Campus wuchs ein wahres Golgatha von Bibliothek in die Höhe. Leicht gereizt steuerte ich einen abgeschiedenen Winkel des Cricketgeländes an, wo in einem kleinen Gehölz Patsy und ich in einer trunkenen, schändlichen Nacht dem Vollzug unserer oder, genauer, meiner Liebe am nächsten gekommen waren. Doch das Wäldchen war von einem Lattenzaun umgeben, hinter dem ein gieriger Bulldozer zu hören war. Es war deprimierend. Ich wunderte mich über diese Hochglanzmenschen, die das alles nicht zu kümmern schien, die fröhlich mitten durch die Ödnis marschierten, als wären sie erst gestern geboren worden.

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rübsinnigen Gedanken nachhängend, ging ich über den New Square, als jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah einen schwabbeligen Büromenschen in einem billigen blauen Anzug. Er stand, die Hände in den Hosentaschen, in der Auffahrt zum Arts Building, wo sich traditionell Trinitys Highsociety versammelte, um zu kritikastern, zu flirten und zahllose Zigaretten zu rauchen. Erst glaubte ich, einem Geist gegenüberzustehen oder einer Schattengestalt aus meiner Erinnerung.
»Du bist es tatsächlich«, sagte er. »Hab mir gleich gedacht, das kenn ich dochÉ« Er klopfte sich an die Brust, und ich schaute nach unten und sah den Taschentuchzipfel mit dem Monogramm, der aus meiner Brusttasche lugte.
»Hoyland Maffey«, sagte ich. »O MannÉ«
»Zeit lang her, was?«, sagte Hoyland.
»Kann man wohl sagen«, sagte ich. Danach wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte, und er offensichtlich auch nicht. Ein paar Sekunden lang standen wir verlegen da und fragten uns beide, ob wir diese Unterhaltung fortsetzen wollten.
»Komisch, dass ich dir gerade hier über den Weg laufe«, sagte er und deutete auf die Bäume und die Gebäude. »Was machst du hier, in alten Erinnerungen schwelgen?«

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ja, das wirdÕs wohl sein«, sagte ich. Sein Rettungsring war merklich angeschwollen, gleichzeitig sah er irgendwie geschrumpft aus, nicht so hoylandmäßig wie früher. Ohne Zweifel dachte er das Gleiche über mich; ich sah, dass er verstohlen meinen Kopfverband musterte und sich fragte, ob er mich darauf ansprechen sollte oder nicht. Er tat es nicht, und die Stille erreichte ein peinliches Stadium. »Tja!«, sagte er bestimmt.
»Tja!«, sagte ich, lachte verlegen und wollte mich wieder auf den Weg machen, als er mit Nachdruck hinzufügte: »Charles?
»Ja?«
Sein Blick streifte kurz den im Rokokostil erbauten Campanile. »Gerade fällt mir ein É Hast du eigentlich die Pfauen noch?«

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ch errötete und antwortete nicht sofort. Doch dann fiel mir unser alter Runninggag wieder ein. Und sofort war auch die Erinnerung an die Krocketpartien, an das Flanieren durch die Straßen, an die Leidenschaft unseres vergangenen Lebens wieder da. »Die habe ich tatsächlich noch«, sagte ich. »Und du? Hattest du nicht irgendwelche Meeresvögel? Seidenreiher, oder? Egretta garzetta, stimmtÕs?«

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oyland stand ein paar Sekunden regungslos da und schaute in die Ferne. »Egrets«, summte er vor sich. »Egrets, IÕve had a few. But then again, too few to mentionÉ«
Studenten schauten geringschätzig zu uns herüber, als wir in brüllendes Gelächter ausbrachen und unser geheimes Handschlagritual vollzogen. Dann merkte Hoyland an, dass es Zeit zum Lunch sei, und da außer einem Nachmittag in meinem Slum nichts weiter auf mich wartete, ließ ich mich zu einem Sandwich einladen.
»Beschissene neue Zeiten sind das«, sagte Hoyland mit dem Mund voller Krabbensalat und schaute gallig auf das Gewusel der Buchhaltertypen, die in der langen, prunkvollen Halle ihr Gourmet-Lunch verzehrten. Wir saßen in einem der neuen Cafés, einem luftigen Raum mit Holzbalken an der Decke und Wänden, die mit Postern aus den 1920ern bepflastert waren. Ich hatte Hoyland gerade gefragt, warum er einen so erbärmlichen Anzug trage.
»Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein«, sagte er.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.05.2006