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Manche Leute glauben, dass man so kein Geschäft führen kann. Sie sagen, wir sind naiv, wir hängen einer Utopie nach. Aber wir sagen, die Zukunft ist Utopie. Und unser Geschäft ist es, die Zukunft zu bauen. Die Veränderungen, die wir überall in dieser Stadt sehen, die neuen Autos, die neuen Hotels, die Restaurants und Sushi-Bars, sie schulden ihre Existenz der Revolution der Technologie - Leuten wie Ihnen und mir. Wir prophezeien, dass bald alle so arbeiten wie wir.«
Sie warf ihr glattes schwarzes Haar zurück und faltete die Hände. »Genug jetzt der Eigenwerbung. Verraten Sie mir eins, Charles, warum sind Sie ausgerechnet zu uns gekommen?«
»Bitte?«
»Warum haben Sie sich für Sirius Recruitment entschieden?«
»Oh.« Ich hatte gerade darüber nachgegrübelt, was ich tun würde, wenn die wunderschöne Empfangsdame das zwischen mir und Gemma herausfände - verdammt kompliziert. »Na ja, hauptsächlich wegen dem, was in Ihrer Anzeige steht. Das mit dem Trott, in dem man drinsteckt und so. Ich hab die Schnauze gestrichen voll.«
Sie nickte aufmunternd und bedeutete mir, dass ich fortfahren solle.
»Na ja, ich meine, Tatsache istÉ«, sagte ich. »Tatsache istÉ«

T
atsache war, dass ich mir nicht sicher war, wie viel ich ihr erzählen sollte. Doch dann blickte ich in ihre kühlen grauen Augen, und plötzlich sprudelte alles aus mir heraus: Mrs Ps blinde Passagiere, Bels Theatergruppe, dass Mutter Fremde in mein Zimmer lässt, Boyd und die Stewardessen, dass ich bei Frank wohnte. »Und Frank ist ja nur die halbe Geschichte«, sagte ich. »Dieser andere Bursche, Droyd, das ist erst was. Gestern, zum Beispiel, da hat er im Ofen seine Sachen getrocknet, obwohl ich ihn freiheraus gebeten hatte, es nicht zu tun. Und jetzt riecht die ganze Wohnung nach Socken. Absolut unerträglich. Wenn ich nicht was Eigenes finde, weiß ich nicht, was ich tue. Ich hab schon einen Nesselausschlag. Sie sehen, es ist wirklich wichtig, dass ich sofort mein Stück vom Kuchen bekomme.«

G
emma bedachte das schweigend. Dann sagte sie langsam: »Das sind alles sehr gute Gründe, Charles. Weil man seine Arbeit nicht von seinem Privatleben trennen kann, hab ich Recht? Wie kann man erwarten, dass jemand seine persönlichen Gaben und Neigungen ausschöpft, wenn er bei Fremden auf dem Boden schlafen muss?«
»Das frage ich mich auch«, sagte ich.
»Keine Panik, das ist jetzt das Wichtigste«, sagte Gemma. »Bei uns betteln buchstäblich tausende von Unternehmen um intelligente junge Computerfachleute wie Sie. Wir müssen lediglich Ihren Werdegang mit einem passenden Geschäftsprofil zur Deckung bringen. Verschwenden wir also keine Zeit mehr, sondernÉ« Sie klappte das Formular auf und klappte es mit besorgtem Gesichtsausdruck gleich wieder zu. »Sie hatten nicht zufällig übersehen, Charles, dass dieses Formular vier Seiten umfasst?«
»Nein«, sagte ich.
»Mir fällt auf, dass Sie eine Menge Rubriken ausgelassen haben.«
»Das meiste brauchte mich nicht zu kümmern«, erläuterte ich.
»Oh«, sagte Gemma. »Gut. Es gibt ja auch wirklich keinen Grund, warum Sie diese langweiligen Formulare ausfüllen sollten, wir können das ja auch so É Okay, hier steht, dass Ihr Hauptfach auf dem College Theologie war.« Sie schaute auf. »Das war doch sicher faszinierend!«
»Ja«, sagte ich zögernd. »Eigentlich war das Vaters Idee. Theologie war das einzige Fach im Trinity College, wo sie mich genommen haben, und der Plan war, dass ich zwei Jahre Theologie mache und sie mich dann vielleicht zu Jura überwechseln lassen.«
»Jura, aha, verstehe. Und dannÉ«
»Dann ist Vater gestorben.«
»Oh.« Gemma schreckte ganz kurz zurück. »Das tut mir furchtbar LeidÉ«
»Ist schon gut«, beruhigte ich sie. »Aber mit Jura war erst mal Schluss.«
»Ja«, sagte Gemma und nickte ernst. »Stattdessen haben Sie dannÉ«
»Das College verlassen, ja. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas Zeit zum Nachdenken bräuchte.«
»Okay, gut, und dannÉ«
»Tja, das führt uns dann eigentlich direkt bis zum heutigen Tag«, sagte ich.
»Oh«, sagte Gemma. »Oh.« Sie senkte den Blick, als wollte sie die leeren Seiten des Bewerbungsformulars noch mal ganz genau durchsehen. »Dann haben Sie also seitdem É äh É gedacht?«
»Ach, wissen Sie, ich hab mal dies gemacht, mal das, nichts Bestimmtes.« Ich nippte gedankenvoll an meinem Mokkachino. »Komisch, wie die Zeit einfach so vergeht, stimmtÕs nicht?«
»Ja, ja«, sagte Gemma mit feierlicher Stimme, bildete mit den Fingern ein spitzes Dreieck und drückte sich damit links und rechts gegen die Nase. »Um ehrlich zu sein, Charles, ich frage mich, was das alles mit Ihrer Karriere auf dem Feld der Informationstechnologie zu tun hat.«
»Mmm«, sagte ich schlicht und strich mir übers Kinn.
»Vielleicht erzählen Sie mir einfach, wo genau auf diesem Gebiet Ihre Interessen liegen?«

I
ch glaubte, in ihrem Tonfall den Hauch von irgendetwas bemerkt zu haben. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber ich bekam allmählich das undefinierbare Gefühl, dass ich bei einem wichtigen Punkt Mist gebaut hatte. Plötzlich fiel mir der Bankangestellte ein, der durch Vaters launische Kreditstruktur in seinem Systemvertrauen nachhaltig erschüttert worden war. Eine ähnliche Reaktion bei Gemma wollte ich vermeiden.
»Nun«, sagte ich langsam. »Tatsache ist, dass die Informationstechnologie heutzutage unentbehrlich ist. Sie ist allgegenwärtig. Weil, ich meine, jeder braucht Information, stimmtÕs, oder wie würden wir sonst was wissen? Wohin man auch geht, überall istÉ ist Information.« Ich warf einen verstohlenen Blick auf Gemma. Sie kaute auf einem Kugelschreiber. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? »Und mit der Technologie«, fuhr ich fort, »ist es doch genau das Gleiche. Überall Technologie, sie macht alles schneller É undÉ« Einen Augenblick lang hakte es, aber dann hatte ich einen Geistesblitz. »Und wenn man genau drüber nachdenkt, wie kämen wir überhaupt an Informationen, wenn nicht durch Technologie? Andersrum genauso, wie könnten wir mehr über Technologie erfahren als mit É äh É Informationen?«
»Gut«, sagte Gemma undurchsichtig, als ich fertig war. »Gut.« Sie nahm das Bewerbungsformular noch mal zur Hand. »Für meine Unterlagen, Charles, muss ich noch etwas wissen. Also, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Ihnen gern eine Liste mit Computersprachen und Anwendungen vorlesen, und wenn Sie schon mal mit einer von denen gearbeitet haben oder damit vertraut sind oder sie Ihnen schon mal untergekommen ist, egal wie, dann antworten Sie einfach mit ÝJaÜ, okay?«
»Okay.«
»Quark«, sagte sie.
»Was?«, sagte ich.
»Word«, sagte sie. Ich begriff, dass sie angefangen hatte, die Liste vorzulesen. »Excel, PowerpointÉ«

E
s war eine lange Liste, und gelegentlich hob sie den Kopf, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war. Während sie las, stieg mir die Schamesröte ins Gesicht. So viele Sprachen, so viele Anwendungen! Wie war es nur möglich, dass ich nicht mal einer mächtig war? Sie las und las - »void É Basic Basic É Advanced Basic BasicÉ« -, und ich konnte nichts als dasitzen und den bedeutungslosen Worten lauschen wie dem Vortrag eines schauerlichen futuristischen Gedichts.
Schließlich war es vorbei. Gemma schaute mich scharf an. Ich räusperte mich und rückte unnötigerweise meine Krawatte zurecht. »Charles«, sagte sie. »Möglich, dass ich vorschnell urteile, aber kann es sein, dass sich Ihre Multimediakenntnisse etwa auf dem Level Ihrer IT-Kenntnisse bewegen?«
Ich nickte einfältig und fragte mich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war, meinen Power-Spirit zur Sprache zu bringen.
»Kurz gesagt, Charles.« Gemma stand ziemlich abrupt auf und schaute hinaus in den Gewürzgarten. »Ich tue Ihnen wohl nicht unrecht, wenn ich sage, dass Sie noch nie für Ihren Lebensunterhalt gearbeitet haben. Ist das korrekt?«
»Nun ja, nicht direkt«, gab ich zu. Mir fiel gerade ein, dass ich eine ganze Reihe von Jahren Vaters Pfauen betreut hatte. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob diese Art Erfahrung von Relevanz war, zumal die meisten der Pfauen in meiner Obhut gestorben waren. Ich beschloss also, sie erst gar nicht zu erwähnen.
»Interessen?«, fragte Gemma. »Hobbys?«
»Ich schaue mir gern alte Filme an«, sagte ich. »So um Mittag rum kommt meistens ein guter.«

S
icher.« Gemma klackerte mit ihren Fingernägeln auf das schiefergraue Furnier der Schreibtischplatte. »Ich brauche etwas Proaktiveres als das, Charles. Sie müssen mir da schon ein bisschen helfen. Was genau É Erzählen Sie mir, was genau Sie sein wollen.«
»SeinÉ?« Ich hatte eigentlich nie irgendetwas Spezielles sein wollen - nicht wie Bel, zum Beispiel, die Schauspielerin sein wollte, seit sie zwölf war, und vor dieser Zeit umfängliche Vorbereitungen für den Tag getroffen hatte, an dem sie Zarin würde.
»Anders gefragt: Wo sehen Sie sich heute in fünf Jahren?«
Ich tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe. Eine unwiderstehliche Frage.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.05.2006