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Als ich auf der OÕConnell Bridge stand und den Stadtplan studierte, den Fluss unter mir, umgeben von verschiedenartigen Lichtern und Geräuschen, gepiekst von Regenschirmen, Schultaschen, Zeitungen, Palmtops, kam mir das alles ziemlich wundersam vor. Dann stieß mich jemand an, die Karte fiel mir aus der Hand, und ich ließ mich von der Menge davontragen. Wir wogten die College Green hinauf, wurden an jeder Einmündung mit weiterem Menschenzufluss gespeist, und es wäre ein Leichtes gewesen, sich einzureden, dass hier nicht zufällig zusammengetroffene Körper zufällig in die gleiche Richtung gingen, sondern dass man als Teil einer Masse, einer Bewegung großen Taten entgegenstrebte. Ich war so fasziniert davon, dass ich fast an Vuk vorbeigelaufen wäre, der in einer Schlange unscheinbarer Ausländer an einer Gitterbarriere lümmelte. Er winkte mir freudig zu, und ich blieb stehen, begrüßte ihn und fragte, was er hier mache. »Warten auf É äh É«, sagte Vuk. Ich sage Vuk, obwohl ich nicht beschwören könnte, dass es nicht vielleicht doch Zoran gewesen war. Anscheinend fielen ihm die passenden Worte nicht ein. Er deutete mit den Händen ein Viereck an und sagte: »Warten auf É Papier.«

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irklich?« Da standen noch etwa eine Million Menschen vor ihm, und die Schlange schien sich keinen Millimeter zu bewegen. Ich sagte ihm, dass an dem Zeitungskiosk ein Stück weiter sicher nicht so viel los sei, aber er schien mich nicht zu verstehen. Vielleicht erinnerte ihn das an zu Hause, an die langen Schlangen, wenn sie um Lebensmittel anstanden. Ich hätte nach Mirela fragen sollen, aber ich wollte mich nicht weiter aufhalten, außerdem zog ich es vor, sollte sie inzwischen Harry küssen, nichts davon zu hören. Hastig empfahl ich mich und setzte meinen Weg Richtung Merrion Square fort.
Sirius Recruitment hatte seine Büros in einem ehrwürdigen grauen Gebäude mit getönten Glastüren, in denen ich noch einmal kurz mein Aussehen überprüfte. Ich muss vorausschicken, dass meine Garderobe für den Anlass nicht optimal war. Das Dinnerjacket war etwas stockfleckig, die Weste ein Hauch zu grell. Da meine übrigen Anzüge jedoch unter den Gästen des Coachman verteilt worden waren, hatte ich keine andere Wahl. Insgeheim hielt ich mein Äußeres für recht verwegen, Die-Mumie-erobert-Manhattan-mäßig, auch wenn Frank gemeint hatte, ich sehe aus wie Frankensteins Butler, und Droyd nur ein Wort gesagt hatte - Schwuchtel. Schon bald würden sie erkennen, dass der Mangel an Eleganz durch Power-Spirit mehr als wettgemacht wurde.

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ch betrat einen großzügigen, von kühl silbrigem Licht durchfluteteten Empfangsraum. Das zarte Bimmeln eines funkelnden Glockenspiels erfüllte die Luft, frisch geschnittener Spanischer Flieder schmückte den Raum. Eine Wand war bedeckt mit Fotos, die das Sirius-Recruitment-Team mit zufriedenen Kunden zeigte oder ausgelassen nach einem Tag harter Arbeit. Alle lächelten und herzten sich. Angesichts der Schrecken meines momentanen Lebens machte mich all diese Heiterkeit ziemlich sprachlos. Wie der Mann, der zufällig durch die Hintertür in den Himmel stolpert, stand ich ein paar Sekunden einfach nur da und gaffte. Dann sprach mich eine Stimme an, eine Stimme von unbeschreiblichem Wohlklang.
»Hallo«, sagte die Stimme.
Ich drehte mich um. Hinter einem Schreibtisch saß eine wunderschöne Empfangsdame. »Ha-hallo«, stammelte ich. Sie war eine exquisite, elfenhafte Erscheinung mit lohfarbenem Teint, und ihr winziges goldenes Headset war von ausnehmender Eleganz.
»Sie sehen aus, als hätten Sie sich verirrt«, sagte sie neckisch.
»Nein, nein«, sagte ich und hielt inne. Zum ersten Mal seit der Explosion meines Turms wurde mir klar, dass ich in der Tat umherirrte. »Das heißt, ja«, sagte ich. »Ich meine, ich suche Arbeit.«
»Dann sind Sie hier genau richtig«, sagte sie lachend. »Füllen Sie dieses Formular auf, Gemma hat dann gleich Zeit für Sie. Gemma ist unser Boss. Aber keine Angst, sie ist ein Goldstück.«

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ch nahm auf einer langen Plüschcouch Platz und machte mich an die Arbeit. Das Formular stellte mich vor keine großen Probleme, da ich mehrere Seiten (bisherige berufliche Erfahrungen, Sprachen, weitere Kenntnisse und Fähigkeiten, langfristige Pläne und Ziele) gleich überspringen konnte. Ich war bald fertig und konnte meine Aufmerksamkeit wieder den Fotos an der Wand widmen; im Geiste sah ich mich während eines Betriebsausflugs zur Gokart-Bahn neben der wunderschönen Empfangsdame stehen oder bei jemandes dreißigstem Geburstag, wo ich sie mit Silly String vollschäumteÉ
»Charles?«
Blitzartig wachte ich auf. Am Ende des geschwungenen Schreibtischs stand eine Frau - eine groß gewachsene, königliche Frau mit feinen Krähenfüßen. »Gemma!« Ich sprang auf, um ihr die Hand zu schütteln.
»Kommen Sie, mein Schreibtisch steht dahinten«, sagte sie lachend.

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ir schlängelten uns durch eine Art Großraumlabyrinth aus Topfpflanzen, Wasserspendern und Espressomaschinen. Überall saßen Leute, die mit gelassener Befriedigung telefonierten oder an ihren Computern arbeiteten. Gemmas Platz befand sich ganz hinten vor einem breiten Fenster, durch das man auf einen akkurat manikürten viktorianischen Gewürzgarten blickte.
»Als Erstes, Charles«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl, »möchte ich mich für Ihren Besuch bedanken.«
»Das ist schon okay«, sagte ich. Die Stellwände um ihren Schreibtisch waren ebenfalls mit Fotos bepflastert: die Sirius-Bande beim Rodeo, auf dem Empire State Building, bei einer Aufführung von Cats.
»Bevor wir über Sie reden«, sagte Gemma, »möchte ich Ihnen ein bisschen über unsere Agentur erzählen und kann Sie hoffentlich davon überzeugen, dass es die richtige Entscheidung von Ihnen war, hierher zu kommen.« Meine Verbände schienen sie nicht im Mindesten zu stören. Es war, als wäre sie fähig, einfach durch sie hindurchzuschauen und nur den Mann darunter wahrzunehmen. »Warum Sirius? Nun, wie Sie wissen, erlebt Irland derzeit ein in der Geschichte des Landes nie dagewesenes Wachstum. Tatsächlich beneidet uns ganz Europa um unsere Wirtschaft.«

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s sei denn, fiel mir plötzlich ein, dass ihr die Verbände sogar gefielen. Eine Möglichkeit, die nicht vollkommen auszuschließen warÉ»Aber was ist der Grund für dieses Wachstum? Die Antwort ist einfach: Sie sind der Grund!«
»Ich?«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie nickend. »Sie und andere junge Hochschulabsolventen. Es ist Irlands Potenzial an bestens ausgebildeten und extrem motivierten jungen Arbeitskräften, das uns für investitionswillige Unternehmen aus dem Ausland so attraktiv macht. Die Revolution auf dem Gebiet der Informationstechnologie ermöglicht Dinge, die uns noch vor wenigen Jahren wie Science-Fiction vorgekommen wären. Und wir in Irland haben es geschafft, uns an die Spitze dieser bahnbrechenden Technologie zu setzen. Darf ich Ihnen einen Mokkachino anbieten, Charles?«
»Ja, bitte, Gemma.«
»Wir bei Sirius wissen genau«, fuhr sie fort, während sie zu dem glänzenden Chromapparat in der Ecke ging, »dass unsere Angestellten - wir nennen sie Partner - zu den besten der Welt gehören. Und deshalb waren Bryan und ichÉ« - sie zeigte auf eins der Fotos, das vor dem ehrwürdigen grauen Gebäude aufgenommen worden war: Bryan mit Gemma im Arm auf der Motorhaube eines goldenen Saab - »Éals wir Mitte der Neunziger dieses Unternehmen gegründet haben, von Anfang an entschlossen, dass wir keiner von diesen spießigen Läden sein wollten, die ihre Zeitarbeiter für einen Tag nach Timbuktu schicken, damit sie da Briefumschläge lecken.« Gekonnt hantierte sie mit Hebeln und Knöpfen und schäumte mit heißen Wasserdampf die Milch auf. »Wir betrachten unsere Partner nicht als Roboter, die man in der Gegend herumscheucht, sondern als kreative, begabte Individuen.« Sie reichte mir eine Tasse und nahm mir gegenüber Platz. »Wir haben alle Arten von Kunden. Sirius-Partner entwerfen eine Website für ein irisches Start-up-Unternehmen oder arbeiten an E-Business-Lösungen für die irische Niederlassung eines multinationalen Konzerns. Sie entwickeln einen 3D-Simulator für eine Ölbohrfirma oder schneidern passgenaue Software für eine Topagentur aus dem Bereich Arbeitsvermittlung.«

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ir lachten beide, obwohl ich mir nicht sicher war, wovon sie überhaupt redete. »Eins kann ich Ihnen versichern, Charles. Sie werden sich bei uns nie langweilen. Wir wollen, dass Sie Ihre Talente bis zum Limit weiterentwickeln - das wirft erstens ein gutes Licht auf uns, und zweitens verdienen wir dann alle mehr Geld.«
Wir lachten wieder. »Aber jetzt mal ernsthaft«, sagte sie und rutschte etwas auf ihrem Stuhl vor. »Was ich sagen will, ist Folgendes É Ohne Sie gibt es keine Agentur namens Sirius Recruitment. Obwohl ich der Chef dieses Unternehmens bin, sage ich doch immer wieder: Ich arbeite für Sie.« Gemma nippte an ihrem Mokkachino und leckte sich den Schaum von den Lippen. Ich stellte mir vor, dass ich eine Affäre mit Gemma hatte und Bryan hemmungslos weinend in seinem Saab kauerte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.05.2006