22.04.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Seit drei Jahrzehnten stocken
die Reformen an den Schulen

Trotz anderer »Verpackung« noch immer weithin die falschen Rezepte

Von Rolf Dressler
Bielefeld (WB). Von Reformen wird auch im Jahre 2006 wieder fortwährend geredet. Doch die vielbeschworene Erneuerung des Lehrens und Lernens gerade an Deutschlands Schulen stockt an den entscheidenden Punkten seit mehr als drei Jahrzehnten.

Das veranschaulichen reformkritische Veröffentlichungen beispielsweise aus den Jahren 1976/77 und 1986, die das WESTFALEN-BLATT aus aktuellem Anlass dokumentiert. Sie belegen im Vergleich mit den heutigen Zuständen bestürzend eindrucksvoll, dass auch 2006 trotz anderer »Verpackung« noch immer weithin dieselben falschen »Reform«-Rezepte angeboten werden. Und zwar auch diejenigen, die sich längst als vollkommen untauglich und sogar sehr schädlich für die Entwicklung der Schulkinder erwiesen haben.
- Damals wie heute klagen reformmüde Lehrer darüber, dass Lehren und Lernen immer stärker ins Hintertreffen geraten. Denn die Stundenpläne werden nicht vorrangig nach klassischen pädagogischen Regeln gestaltet, sondern sind vorwiegend schul- und unterrichtsorganisatorischen Zwängen unterworfen.
- Viele Mammutschulen haben sich zu anonymen »Systemen», ja, zu regelrechten Massenbetrieben ausgewachsen, wie man sie zuvor nur aus der Industrie gekannt hatte.
- Die Folge: Vor allem empfindsamere und lernschwächere Schüler erleben diese riesigen Einrichtungen tagtäglich als zusätzliche Belastung. Weil die früher aus guten Gründen üblichen festen Klassenverbände weitgehend aufgelöst wurden, erscheinen die Schulen immer mehr Schülern wie ein Wanderzirkus.
- Deshalb brauche sich niemand darüber zu wundern, dass die Zahl der lern- und verhaltensgestörten Kinder oft schon im Grundschulalter rasant wachse, mahnten schon Mitte der 1970er und 1980er Jahre einhellig der Philologenverband und, zum Beispiel, der Aachener Pädagogik-Professor Günther Schnuer in seinem bis heute frappierend aktuellen Buch »Die deutsche Bildungskatastrophe«, 1986 erschienen im Herforder Busse-Seewald-Verlag.
- Gleiches gilt für den Unterrichtsausfall. Seit nunmehr schon drei Jahrzehnten wächst und drückt dieses Problem zu Lasten der Schüler praktisch ungebremst. Der Dauerskandal hat inzwischen sogar nie dagewesene Ausmaße erreicht. Die Zahl der Fehlstunden klettert Jahr für Jahr höher in die Millionen. Und das allen Reformbeteuerungen von Politik und Kultusbürokratie zum Trotz.
- Die unfreiwilligen Freistunden nutzen die meisten Schüler heute wie damals zu Stadtbummel, Kaffeetrinken, Musikhören etc.
Das alles lenkt sie ab von den eigentlichen Inhalten des Schulunterrichts. Stellt der Lehrer dann Aufgaben, die auch nur normale Konzentration voraussetzen, fühlen sich viele Schüler heute oft noch mehr als früher überfordert und gestresst. Und diese sehr nachteilige Wirkung wird auch noch dadurch verstärkt, dass sie von Unterricht zu Unterricht innerhalb ihrer (Mammut-)Schule zwangsweise fast ständig »auf Wanderschaft« sind.
Als außerordentlich bildungshemmend erwies sich zudem, dass im Zuge der zahllosen »Reform«-Veranstaltungen immer mehr anspruchsvolle und deshalb bei Schülern wie Eltern als unangenehm schwierig geltende Unterrichtsfächer abgewählt werden konnten. So studierte mehr als nur eine Lehrergeneration ohne Grundkenntnisse in den Naturwissenschaften.
Nicht zuletzt auch dies wiederum hat höchst ungute Folgen für die nachwachsenden Schülerjahrgänge und für den Wirtschaftsstandort Deutschland, was nicht erst seit den Jahren 2005/2006 mit Händen zu greifen ist.
Leitartikel

Artikel vom 22.04.2006