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Irgendwie scheint es, als hätte dieser musikalische Wettbewerb deutlich an Ernsthaftigkeit eingebüßt.

Leitartikel
»Eurovision Song Contest«

»Monster«
an der
Akropolis


Von Daniela Rahn
Noch einen Tag, dann geht in Athen die Post ab. Glaubt man Meldungen der ARD, dann war das Medieninteresse an der Endrunde des »Eurovision Song Contests« noch nie so groß. Scharen von Reportern werden in der griechischen Hauptstadt erwartet, wenn morgen der Sieger gekürt wird.
Der deutsche Vorentscheid verlief für den Ex-»Modern-Talking«-Sänger Thomas Anders in diesem Jahr ebenso enttäuschend wie für die Sängerin Vicky Leandros, die 1972 für Luxemburg an den Start ging und den ersten Platz mit ihrem Lied »Après toi« belegte. Die Jury - in Gestalt der Fernsehzuschauer -Ê schickte beide nach Hause und kürte stattdessen die Gruppe »Texas Lightning«. Dahinter verbirgt sich kein Geringerer als Olli Dittrich, Urgestein der deutschen Comedy-Szene, mit seiner Country-Combo.
Spaßveranstaltung mit Cowboyhut? Wollen wir mal hoffen, dass der deutsche Beitrag mit dem Titel »No, no, never« (nein, nein, niemals) nicht richtungsweisend für die Punktevergabe der internationalen Publikumsjury sein wird. Bei allem Respekt vor der musikalischen Leistung der Gruppe: Irgendwie scheint es, als hätte der Wettbewerb, der zum ersten Mal 1956 in Lugano in der Schweiz über die Bühne ging, deutlich an Ernsthaftigkeit eingebüßt.
War nicht das internationale Flair viel ausgeprägter, als der »Eurovison Song Contest« noch ein Wettbewerb war, bei dem die Künstler in ihrer jeweiligen Landessprache singen mussten? Und war es nicht viel spannender, als es für die ausgewählten Titel noch eine Sperrfrist gab und jedes Lied eine kleine Premiere war?
Man denke an die Sieger, deren Karriere mit dem internationalen Wettbewerb ihren Anfang nahm: France Gall (1965), ABBA (1974), Johnny Logan (1980) und nicht zuletzt der erste und bislang einzige Sieg Deutschlands, den die Sängerin Nicole 1982 mit ihrem Lied »Ein bisschen Frieden« in Harrogate errang.
Morgen wird der Großteil der Wettbewerbsbeiträge mal wieder in englischer Sprache gesungen werden. Und die meisten Zuschauer kennen ihren Landesbeitrag längst, weil er seit Wochen im Radio rauf und runtergespielt wird.
Doch aufgepasst: Wer glaubt, dass der deutsche Beitrag schon zu den ausgefallensten Darbietungen gehört, hat sich mächtig geirrt. Finnland schickt mit »Lordi« eine Band ins Rennen, die sofort in jedem Horrorfilm einspringen könnte. Die Musiker tragen fiese Zombie-Masken, Äxte und Totenkopf-Rüstungen.
Dass natürlich auch sie Englisch singen, scheint noch das geringere Übel zu sein. Das Gebaren dieser Musiker lässt ernsthafte Zweifel aufkommen, ob sich der »Eurovision Song Contest« als TV-Programmpunkt noch für die ganze Familie eignet. Es wäre spannend zu erfahren, wie die Gruppe eine der eisernen Veranstaltungsregeln erfüllen konnte, die da lautet: »Lied oder Auftritt darf dem Wettbewerbsimage nicht schaden«.
Apropos Image: 2000 Berichterstatter werden dafür sorgen, dass die Metal-Monster mit den Gummi-Gesichtern mehr PR bekommen, als sie jemals zu träumen gewagt hatten. Morgen Abend werden wir die Antwort auf die Frage kennen, die zugleich Titel des finnischen Beitrags ist: »Why angels cry« (warum Engel weinen).

Artikel vom 19.05.2006