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»Unseren täglichen
Seehund gib uns heute«
Auf Grönland ticken die Uhren anders -ÊBeobachtungen in Nuuk
Es ist die faszinierende Natur, die immer häufiger Touristen nach Grönland zieht. Riesige Gletscher, schroffe Fjorde, von Mückenschwärmen heimgesuchte Wiesen, triste Schotterfelder -Êzwischen diesen vier Extremen hat man die Auswahl.
Grönland wird von den einheimischen Inuit Kalaallit Nunaat genannt, was soviel wie »Land der Menschen« bedeutet, und ist die größte Insel der Erde. Geographisch wird sie zum arktischen Nordamerika gezählt.
Grönland verfügt zwar in Kangerlussuaq und Narsarsuaq über zwei internationale Flughäfen, die aber liegen wirklich inmitten von Natur und Einsamkeit. Grönlands Hauptstadt Nuuk ist nur mit dem Helikopter oder dem Postschiff zu erreichen.
Letzteres gönnt den Mitreisenden dort drei Stunden Aufenthalt -Êso lange wie auf keinem anderen Zwischenstopp der »Arctic Umiaq Line«. Um sich einen kurzen Überblick zu verschaffen, reicht diese Zeit. Aber wer die Atmosphäre dieser eigenwilligen Stadt genießen will, muss länger bleiben. In Nuuk ist das auch kein Problem, dort gibt es Hotels, Restaurants und Taxis.
Nuuk befindet sich 250 Kilometer südlich des Polarkreises, hat 14 350 Einwohner und liegt wie die meisten Städte und Siedlungen im eisfreien Küstenstreifen. Haupterwerb ist der Fischfang, besonders der von Krabben und Heilbutt. Es herrscht subpolares Klima, das an der Westküste durch den Golfstrom noch gemildert wird. Dieser verhindert, dass im Winter das Meer gefriert. Die Küstenstreifen, an der Westküste bis 150 Kilometer breit, und alle vorgelagerten Inseln sind eisfrei und haben Tundravegetation, die nach Norden hin stark abnimmt. In Nuuk gibt es diverse Aussichtspunkte, auf denen man den Blick in die umliegenden Fjorde genießen kann.
Auf dänisch hieß die Stadt früher Godthåb, was übersetzt auf Deutsch »Gute Hoffnung« bedeutet. Politisch ist Grönland autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark. Seit 1979 besteht das Autonomie-Statut, seit 1985 ist Grönland nicht mehr Mitglied der EU. Im Jahre 2006 soll ein Referendum den künftigen Status der Insel bestimmen. Gegenwärtig wird durch die Erschließung von Rohstoffen versucht, sich wirtschaftlich von Dänemark zu lösen.
Nuuk ist alles andere als ein verschlafenes Städtchen. Die Inuit Grönlands werden in drei Gruppen unterteilt. Den Hauptteil stellen die Westgrönländer dar, die an der Westküste zwischen Upernavik und Nanortalik leben.
Nuuk ist das Zentrum der dänischen Minderheit auf Grönland. So hat die Hauptstadt beinahe einen kosmopolitischen »touch«. Denn es leben auch einige Deutsche in Nuuk. Diese Verbindung ist historisch gewachsen, so gab es schon 1774 einen Ort namens Lichtenau auf Grönland. Er wurde als Missionsstation der Herrnhuter Brüdergemeinde gegründet. Zeitweise war es der bevölkerungsreichste Ort auf Grönland, was sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte deutlich änderte.
Die Missionare haben 1900 Grönland wegen der Konkurrenz der Dänischen Nationalkirche verlassen müssen. Samuel Kleinschmidt (1814-1886) war einer der Missionare in Lichtenau und später Lehrer am Seminar in Godthåb. Er gab eine grönländische Grammatik und ein Wörterbuch heraus und gilt als Schöpfer der grönländischen Schriftsprache.
An den Pfahl, der auf halbem Weg zwischen seinem Haus in Godthåb und dem Kirchensaal Ny Herrnhut stand, pflegte er morgens seine Lampe zu hängen, um sie abends wieder mitzunehmen, so dass er in der langen Dunkelheit des Winters den Weg finden konnte. Mitten in der Stadt Nuuk findet man am Weg namens Qullilerfik eine Gedenktafel, welche diese Situation beschreibt.
Auch an Hinrich Johannes Rink wird in Nuuk noch heute gedacht: Am Aqqaluks-Platz steht seine Gedenkwarte mit Bronzemedaillon, Rink gründete die Südgrönländische Buchdruckerei und verlegte die erste Zeitung der Insel. Die Einführung der ersten lokalen Selbstverwaltung, an der Dänen und Inuit gemeinsam beteiligt waren, ist sein Werk.
Bei den Streifzügen durch Nuuk stößt man allerdings noch öfter auf den Namen Hans Egede. Der norwegische Missionar kam 1721 nach Nuuk, um die dort wohnenden 12 Eskimofamilien zu bekehren. Dieser Platz war seinerzeit der Sommertreffpunkt der Inuit dieses Gebietes. Sein damaliges Haus ist heute Regierungssitz. Noch heute wird Egede als »Apostel der Grönländer« verehrt.
Egede war evangelischer Pfarrer auf den Lofoten im Norden Norwegens, als er von Grönland, dem sagenhaften grünen Land im Norden hörte, das von den Wikingern besiedelt worden war. In der Vermutung, die ursprünglich christlichen Siedler seien wieder vom Glauben abgefallen, beschloss er, dieses Land zu suchen und zu missionieren. Der dänische König Friedrich IV. gab ihm die Erlaubnis, nicht ohne Interesse an einer Kolonisierung des Landes.
Hans Egede brach im Mai 1721 nach Grönland auf und landete am 3. Juli des Jahres an der Westküste. Er fand jedoch keine Wikinger mehr vor, dafür Inuit. Egede lernte ihre Sprache, untersuchte die Struktur der Sprache und übersetzte wesentliche christliche Inhalte ins Grönländische, nicht ohne Fantasie. So war die Passage im Vaterunser - »unser tägliches Brot gib uns heute« - für die Inuit völlig unverständlich, sie kannten kein Brot. Egede fand eine Lösung: Im grönländischen Vaterunser hieß es dann »unseren täglichen Seehund gib uns heute«.
Egede gründete die erste Kolonie und nannte sie Godthåb - die heutige Hauptstadt Nuuk. Egede ließ seinen Sohn biblische Geschichten zeichnen, kümmerte sich um Kranke und bekehrte die ersten Eskimos zum Christentum. 1724 konnte Egede die ersten grönländischen Kinder taufen.
Der neue König Christian VI. rief 1730 alle Europäer aus Grönland zurück, Egede blieb jedoch, bestärkt durch seine Ehefrau Gertrud. 1733 durften auch Herrnhuter Missionare nach Grönland reisen. Sie bauten südlich von Nuuk Neu-Herrnhut auf.
1734 brach in Egedes Kolonie Godthåb eine Blatternepidemie aus, der alle Inuit und 1735 auch Egedes Frau Gertrud zum Opfer fielen. Hans Egede ließ seinen Sohn Paul in Grönland und reiste am 9. August 1736 mit seinen Töchtern und seinem Sohn Niels nach Kopenhagen. Dort bestattete er seine Frau und bildete bis 1747 Katecheten für den Einsatz in Grönland aus. 1741 wurde er Superintendent der grönländischen Missionskirche. Egede wurde zum »Nationalheiligen« Grönlands. Die Erzstatue von Hans Egede auf dem Kirkefjeldet nahe dem Gotteshaus »Vor Frelsers Kirke« ist die Kopie eines Bildnisses an der Marmorkirche von Kopenhagen.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde Grönland immer wieder von niederländischen, dänischen, deutschen und anderen Walfängern besucht. Die Grönlandfahrt trug wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung Flensburgs bei, das damals zweitgrößter Hafen Dänemarks war.
Thomas Albertsen

Artikel vom 29.04.2006