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Die Menschen haben gelernt,
mit den Folgen zu leben

20 Jahre Tschernobyl - Unaufgeklärte Unterschiede bei den Opferzahlen

Von Stefan Voß
Gomel/Moskau (dpa). Wenn Wladimir Agejew an die Katastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren denkt, gerät der weißrussische Strahlenexperte noch heute in Rage. »Das war nichts anderes als Völkermord«, wettert Agejew, der in der am stärksten radioaktiv verstrahlten Region Gomel Folgeschäden für die Landwirtschaft erforscht.
An der Schilddrüse erkrankt: Die Ärztin Jelena Scherbitzkaja untersucht in Gomel den Studenten Ilja.

Agejew regt sich vor allem über die Vertuschungsversuche der damaligen Sowjetmacht auf. »Hätte man die Menschen rechtzeitig davor gewarnt, ins Freie zu gehen, wäre die Krankheitsrate nach Tschernobyl nicht so dramatisch gestiegen«, betont Agejew.
Auch zwei Jahrzehnte nach dem GAU, dem größten anzunehmenden Reaktorunfall, ist die Wissenschaft gespalten. Taugt Tschernobyl weiterhin als abschreckendes Argument gegen die Atomkraft oder nicht? Für Wirbel sorgt eine Großstudie der Weltgesundheits- organisation WHO vom September 2005 zu den Folgen der Reaktorkatastrophe.
Darin ziehen die Wissenschaftler das Fazit, dass die Folgeschäden von Tschernobyl viel geringer sind als ursprünglich angenommen. Abgesehen von den zu 99 Prozent nicht lebensgefährlichen Krebserkrankungen an der Schilddrüse seien keine grundsätzlich negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Menschen festzustellen. Vielmehr bedrohe die grassierende Armut die Menschen in den betroffenen Regionen weitaus stärker als die Strahlung, heißt es in der Studie.
Der Protest der Atomkraftgegner fällt entsprechend heftig aus. Von einer »gezielten Täuschung der Weltöffentlichkeit« spricht die Vereinigung »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung«. Am deutlichsten werden die gegensätzlichen Positionen bei der Opferzahl durch Tschernobyl: Die WHO-Studie spricht von »weniger als 50 Opfern«, bei denen radioaktive Strahlung zum Tode führte. In der Zukunft sei mit bis zu 4000 Toten zu rechnen. Kernkraftgegner indes rechnen mit »zehntausenden Toten«, Greenpeace gar mit »weltweit mehr als 93 000 Toten« infolge der Tschernobyl-Katastrophe.
Bedienungsfehler und Konstruktionsmängel lösten am 26. April 1986 die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie aus. Eine gewaltige Explosion zerriss den Reaktor und die ihn umgebende Schutzhülle. Große Mengen radioaktiver Materie wurden durch die extreme Hitze in den Himmel geschleudert und verteilten sich auf die Region nordöstlich von Tschernobyl.
Messstationen in Nordeuropa hatten längst Strahlenalarm gegeben, als die ahnungslosen Sowjetbürger am 1. Mai 1986 noch zu Kundgebungen marschierten, während der Nachwuchs in den Sandkästen buddelte. Viel zu spät kam der Evakuierungsbefehl. Allein in Weißrussland mussten 480 Siedlungen aufgegeben werden. 137 000 Menschen wurden umgesiedelt.
Schreckensbilder vom explodierten Kernkraftwerk, von verstrahlten Einsatzhelfern und Menschen auf der Flucht vor der Strahlung gingen um die Welt. Selbst in der 1000 Kilometer entfernten Bundesrepublik brach Panik aus. Viele Menschen haben Angst, Milch zu trinken oder Pilze zu essen. In einem ersten Fazit 1996 sprechen Nuklearmediziner allerdings von unnötig überzogenen Reaktionen in Deutschland.
Zwischen 500 000 und einer Million »Liquidatoren« waren in den Tagen und Wochen nach der Explosion im Einsatz, die meisten von ihnen junge Soldaten. In Minuten-Einsätzen bauten die oftmals ahnungslosen Männer eine provisorische Schutzhülle um den Reaktorkrater oder entsorgten verstrahltes Material. Viele dieser Einsatzkräfte sind bereits gestorben oder aber arbeitsunfähig.
In der Region Gomel muss man 20 Jahre nach Tschernobyl genau hinschauen, um noch Spuren der Katastrophe zu entdecken. Die Menschen haben gelernt, mit den Folgen zu leben. »Wir müssen die Produktion verstrahlter Lebensmittel wirksam stoppen, um das Erkrankungsrisiko für die Menschen zu verringern«, sagt der Strahlenexperte Agejew. Für Weißrussland ist das trotz aller Hilfsprogramme aus dem In- und Ausland ein schwieriges Unterfangen. Bis heute sind im Land 265 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche verstrahlt.
In den drei am stärksten betroffenen Ländern Weißrussland, Russland und Ukraine herrscht dennoch die Tendenz vor, die Folgeschäden der Verstrahlung als eher gering einzustufen. »Die Sterblichkeitsrate der Liquidatoren liegt nicht höher als bei der männlichen Bevölkerung in Russland insgesamt«, berichteten Wissenschaftler in einer Konferenz Anfang April in Moskau. Russland und die Ukraine bauen weiterhin auf Atomkraft. Da erscheinen zu viele Zweifel nicht angebracht. Und die totalitäre Staatsführung Weißrusslands setzt alles daran, die ohnehin schon fatalistische Bevölkerung durch unliebsame neue Schreckensmeldungen nicht noch weiter zu verunsichern.

Artikel vom 19.04.2006