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Äh É klar, Charlie, kein Problem.« Er zog ein dickes Bündel aus der Tasche und zupfte die Scheine heraus.
»Danke. Also dann, gute Nacht.«
»Nacht, Charlie.«
An den meisten Abenden gingen Frank und seine Kumpels einen trinken, und am nächsten Tag ergötzte er mich dann mit Geschichten über ihre Heldentaten - wie irgendein Kerl namens »Ste« von irgendeinem anderen Kerl namens »Mick the Bollocks« irgendein Zeug namens »Speed« kauft und sich dann, als er den Scheiß inhaliert, rausstellt, dass das gar nicht »Speed« ist, sondern irgendwas, mit dem man Ameisen platt macht, und dass Ste dann anfängt zu randalieren und versucht, die Teller zu fressen und sich die Augäpfel rauszupulen. »Komm doch mal mit, Charlie«, sagte Frank gelegentlich. »Lustige Burschen, da gehtÕs voll ab.«
»Danke, nett von dir«, sagte ich dann. Die Geschichten allein reichten aus, dass mir ganz anders wurde.
Damals war ich wohl zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um mich zu fragen, was Frank sich eigentlich davon erhoffte, mich bei ihm wohnen zu lassen. Ich wusste nicht, wie es um ihn und Bel stand. Was immer auch geschehen war, er sprach jedenfalls nie von ihr. Aber manchmal ertappte ich ihn, wie er mich mit sonderbar sehnsüchtigem Blick anschaute, als erwartete er von mir, dass ich sie vor seinen Augen aus dem Hut zauberte. Und dann fragte ich mich schaudernd, ob er vielleicht beabsichtigte, mich für seine Rache an ihr einzuspannen oder als eine Art Liebesgeisel zu nehmen.
Im Großen und Ganzen jedoch kam und ging er, ohne mich weiter zu stören; ich konnte unbehelligt dasitzen und in den Fernseher schauen. Derart von der Welt im Stich gelassen, hatte ich beschlossen, dass dies der optimale Zeitpunkt sei, das Projekt Gene Tierney zu vollenden, oder, wenn man unbedingt Haare spalten wollte, das Projekt Gene Tierney in Angriff zu nehmen. Jeden Nachmittag nach dem Frühstück, wenn Frank bei der Arbeit war, schloss ich die Vorhänge (eine Formalie, sicher, da es in der Wohnung sowieso immer dunkel war), setzte mich mit einem Notizblock und einem Glas von dem schauerlichen Riesling in den Sessel und schaute mir ein Video an. Ich fing ganz von vorn an, mit The Return of Frank James - einer diabolischen Performance, für die ihr der Harvard Lampoon das Prädikat »Schlechtester weiblicher Newcomer des Jahres 1940« verlieh und mehr als ein Kritiker sie uncharmanterweise mit Minnie Mouse verglich. Für mich in meinem jammervollen Zustand waren ihre Filme jedoch wie Botschaften aus freundlicheren, höheren Sphären - Lichtsignale eines weit entfernten Leuchtturms an ein bei Flaute dümpelndes, im Nebel gefangenes Schiff. Ich brauchte die Filme, wie unter Zwang schaute ich sie mir an und war schon bald im Jahre 1946 bei The RazorÕs Edge angekommen.

D
as war einer meiner Lieblingsfilme. Der Held, gespielt von Tyrone Power, ist ein gerade aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrter Pilot, den das erlebte Grauen so abgestoßen hat, dass er es ablehnt, im Boom der Nachkriegszeit mitzumischen, obwohl seine Verlobte, Gene Tierney, ihn nur dann heiraten will, wenn er eine Arbeit annimmt. Der Film beginnt mit einer prachtvollen Countryclub-Ballszene unter Sternenhimmel, in der Gene ihren Verlobten in einem kleinen, mondbeschienenen Laubengang zur Seite nimmt und von den Vorzügen des wirtschaftlichen Aufschwungs überzeugen will. Amerika werde bald so reich sein, sagt sie, dass dagegen alles bis bisher Dagewesene, ob in Amerika oder sonst wo, verblassen werde; sie sagt, dass das für einen jungen Mann wie ihn eine einzigartige Gelegenheit sei und dass er die Chance ergreifen solle, daran teilzuhaben. Doch Tyrone Power, seelenwund ins Leere blickend, sagt nur, dass das für ihn keinerlei Bedeutung habe. Er teilt ihr dann mit, dass er nach Paris zurückkehren werde, um als Penner zu leben.
Sie folgt ihm nach Frankreich, wo dann später im Film die berühmte Szene spielt, in der sie ihn mit in ihre Wohnung nimmt und einen letzten Versuch startet, ihn in die Welt des Merkantilismus hinüberzuziehen. Dabei trägt sie ein bemerkenswertes schwarzes Kleid, das der unheilvollen Scheide eines Dolches ähnelt. Dem Kleid, das der brillante Exilrusse und Tierneys Ehemann seit 1941, Oleg Cassini, entworfen hatte, konnte selbst ein Heiliger wie unser Expilot nicht widerstehen - zumindest für die Dauer eines Kusses.

Z
ugebenermaßen fühlte ich mich, was das Aufbegehren gegen die Leere der modernen Gesellschaft betraf, mit Tyrone Power in diesem Film wesensverwandt. Vielleicht hätte ich erwogen, seinem Beispiel zu folgen und von Bonetown in das ansprechendere Milieu von Paris umzusiedeln, wenn ich nur im Entferntesten an die Möglichkeit geglaubt hätte, dass mir dort eine wunderschöne Frau in schwarzem oder in welcher Farbe auch immer gehaltenem Kleid nachstellen würde. Mit der Zeit jedoch wurde zunehmend klarer, dass das nicht der Fall sein würde.
Seit ich hier war, hatte niemand aus Amaurot auch nur angerufen, nicht mal Mirela, trotz der verheißungsvollen Unterhaltung im Ballsaal damals. Feuer frei! hatte am selben Abend, als man mich des Radissons verwiesen hatte, in einem kleinen Theater hinter dem Bahnhof an der Tara Street eröffnet. In der Zeitung, die ich in der Hotellobby hatte mitgehen lassen, hatte eine kurze Rezension gestanden, nicht rasend vor Begeisterung, aber doch beifällig das »unerschrockene erste Auftreten« der Amaurot Players lobend. So von allem abgeschnitten, wie ich war, hätte das auf einem anderen Stern stattfinden können. So viel zu ihrer Dankbarkeit, dachte ich traurig. Jetzt war ich nicht mehr der Gutsherr, jetzt war ich obdachlos, so wie sie es gewesen war. Alles schien vergessen zu sein.

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as Bel anging, so war ich ziemlich sicher, dass sie sich in ihre belle époque - reiner Zufall, das Wortspiel - gestürzt hatte, ohne auch nur einen Gedanken an das Fegefeuer zu verschwenden, zu dem ihr mitfühlendes Herz mich unabsichtlich verdammt hatte. Das hieß allerdings nicht, dass ich nicht an sie dachte, dass ich mich nicht in jedem Augenblick fragte, was sie wohl machte, während ich hier in dem ausgeweideten Sessel saß und Staubpartikel zählte. Es hieß nicht, dass ich nicht jeden Abend von zu Hause träumte: Aus dem Quietschen der Einkaufswagenrollen draußen vor dem Fenster wurde die rostige Wetterfahne vom alten Thompson; aus dem leisen, weit entfernten Rauschen des Verkehrs das Geräusch der Wellen am Strand von Killiney; aus der unendlich trostlosen urbanen Nacht ein Juliabend mit einer von Bel und mir veranstalteten Gartenparty, mit Manhattans und Hummercremesuppe und einem Sonnenuntergang, dessen Flamingorosa sich über den gesamten Himmel ergoss - bis sie dann »Los, komm« flüsterte und wir uns Hand in Hand zwischen den Bäumen hindurch davonstahlen bis zu der Stelle an den Klippen, wo Vater immer hinaus aufs Meer geblickt und Gedichte rezitiert hatte, wo der Himmel sich in ein ewig währendes blaues Zwielicht verwandelt zu haben schien und wir aufs Meer schauten, das, vom Mond gefoppt, innehielt und dann weiterrollte, und zum weit entfernten Ufer hin, wo die Lichter loderten wie winzige SchiffswracksÉ

E
ines Nachts wurde ich von einem Stampfen aus dem Schlaf gerissen. Der Lärm hallte gleichzeitig durch Decke, Wände, Boden. Die ganze Wohnung vibrierte mitleidlos, als hätten wir ein kleines, aber sehr klar lokalisierbares Erdbeben.
Mein erster Gedanke war, dass jemand versuchte, das Haus abzureißen. Das war schon passiert, hatte Frank erzählt. Als die Stadtplaner aus einem Haus, das sie abreißen wollten, einen Mieter nicht vertreiben konnten, rauschte mitten in der Nacht zufällig-absichtlich ein Lastwagen in die Hauswand. Ich rieb mir die Augen und zog den Morgenmantel an, um draußen Bescheid zu geben, dass sie das falsche Haus erwischt hätten. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, wurde mir klar, dass der Lärm von genau da kam. Oben auf dem Fernseher stand ein gigantischer Ghettoblaster, und daneben wackelte im Takt zu dem Lärm etwas mit dem Kopf, das aussah wie ein riesiges glänzendes Frettchen, das gelernt hatte, auf zwei Beinen zu gehen. Das war zumindest der Eindruck, den ich in dem Bruchteil der Sekunde gewann, bevor sich das Frettchen auf mich stürzte. Dann fand ich mich zu meiner grenzenlosen Überraschung auf dem Boden wieder und wurde gewürgt.

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ffenkundig hatte dieser Kerl schon mal gewürgt. Meine Gegenwehr entschärfte er mit der cleveren Taktik, mir beim Würgen den Kopf auf den Boden zu hämmern. Da er schon in der ersten Minute gute Fortschritte machte, ist es nur fair anzumerken, dass, wenn ich es nicht geschafft hätte, einen Schrei loszulassen, bevor seine Hand meine Gurgel endgültig in den Griff bekam, die Sache auf der Stelle ein unangenehmes Ende hätte nehmen können. Doch gerade, als mir schon schwarz vor Augen wurde, tauchte auf seiner Schulter eine Hand auf und zog ihn weg, und gleichzeitig hörte auch der Lärm abrupt auf. Nachdem ich mich eine Zeit lang hustend auf dem Boden gewälzt und dann so weit berappelt hatte, dass ich ich mich halbwegs auf den Sessel hieven konnte, sah ich Frank, der nicht etwa den Angreifer zu blutigem Brei prügelte, sondern dessen Hand schüttelte und ihm auf den Rücken klopfte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.04.2006