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Ich hatte beim Einchecken nicht daran gedacht, nach dem Preis der Suite zu fragen, aber ich nahm an, eine Menge, vor allem für jemanden, dem man die wöchentlichen Zahlungen gestrichen hatte. Ich hatte schon ziemlich lange keinen Blick mehr auf meinen Kontostand geworfen, aber jedes Mal, wenn ich daran dachte, spürte ich ein komisches kaltes Kribbeln, als ob jemand über mein Grab ginge.
Ich sollte auch noch erwähnen, dass es, nachdem ich eines Abends in der Bar ein kleines Mädchen erschreckt hatte, zu einem kleineren unerfreulichen Zwischenfall mit einigen anderen Gästen gekommen war, sodass ich allmählich den Eindruck gewann, dass ich nicht länger willkommen sei. Die Angelegenheit war ganz und gar harmlos gewesen. Nach ein oder zwei Drinks, ich hatte wohl vorübergehend nicht mehr an meine grässliche Verunstaltung gedacht, hatte ich es für einen lustigen Einfall gehalten, das Mädchen damit zu überraschen, hinter einer Säule hervorzuspringen. Aber sie hatte das Lustige daran nicht teilen können, vielmehr hatte sogar der Hotelarzt kommen müssen, um ihr ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Obendrein hatte sich herausgestellt, dass ihre Eltern Amerikaner waren, die ja immer etwas humorlos sind, wenn jemand ihre Kinder erschreckt. Mit einem Wort, sie hatten sich an der Rezeption beschwert, und so war entschieden worden, dass ich ein übles Subjekt sei und so bald wie möglich verschwinden solle. Ich erfuhr dies vom Zimmermädchen, nachdem ich sie eines Morgens zur Rede gestellt hatte, warum sie keine von diesen kleinen Gratispfefferminzplätzchen mehr auf mein Kopfkissen lege.

Das Ende der Geschichte war, dass um acht Uhr am Abend vor meiner Abreise die Koffer, die ich Mrs P von Amaurot hatte herüberschicken lassen, gepackt waren und ich für den nächsten Morgen, zehn Uhr, Frank bestellt hatte, um mir mit seinem Lieferwagen beim Umzug zu helfen. Ich lag auf dem Bett und trank eine Minibarflasche Crème de Menthe, als das Telefon klingelte. »Mr Snooks für Sie«, sagte der Empfangschef.
Es gab ein Problem mit dem Zimmer. »Der Kerl, der ausziehen sollte, liegt mit einer Erkältung im Bett«, sagte Boyd. »Er kann noch nicht ausziehen.«
»Heilige Verdammnis«, sagte ich.
»Garstig, garstig«, sagte er mandelwund pfeifend. »Es hat uns alle erwischt. Schätze, ihm gehtÕs bald wieder besser. In ein, zwei Wochen hat er sich verpisst. Hoffe, du kriegst jetzt keinen Ärger.«
»Na ja, kann man nichts machen«, sagte ich. Und weil er selbst auch nicht sonderlich gesund klang, sagte ich ihm, er solle sich keine Sorgen mache, ich würde mir schon anderweitig helfen.
»Das nenn ich Kampfgeist«, sagte Boyd und unterdrückte ein Niesen. »Und denk an die Stewardessen.«
Ich legte auf und biss mir auf die Unterlippe. Die geplünderte Minibar gaffte mich von der anderen Seite des Zimmers anklagend an. Das war ein Schlag, in der Tat. Ich holte meine Adressbuch und rief die nächste halbe Stunde Bekannte an, ohne Erfolg. Die sich nicht nach London verdrückt hatten, wie zum Beispiel Pongo, lebten in Dublin unter tödlicher Terrorherrschaft ihrer Vermieter - tyrannische viktorianische Teufel, die ihnen nicht mal erlaubten, ein Bild an die Wand zu hängen geschweige denn Gäste zu beherbergen. »Tut mir Leid, Charles«, brummten sie, bevor sie es plötzlich eilig hatten, »du, ich muss jetzt los.«

S
chließlich schien ich keine andere Wahl mehr zu haben, als meinen Stolz hinunterzuschlucken und zu Hause anzurufen. Unnötig zu erwähnen, dass Mutter abhob. »Charles, wie schön, dass du mal anrufst. Gerade habe ich zu Mrs P gesagt, wie es wohl Charles geht. Ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass du flügge geworden bist, wir vermissen dich alle schrecklichÉ«
»Wirklich?«, sagte ich. Vielleicht würde es ja doch nicht so demütigend werden. »Weil, eigentlichÉ« Ich erzählte ihr von Boyd und meiner misslichen Lage.
Als ich fertig war, herrschte verlegene Stille. Als Mutter wieder zu sprechen anfing, hatte ihre Stimme diesen gleichsam tragischen, übermäßig ausgleichenden Klang, den sie immer dann hatte, wenn jemand Mutter aus Gedankenlosigkeit in die Bredouille gebracht hatte. »Ach je, Charles É jetzt bringst du mich aber in Verlegenheit«, sagte sie. »Wir haben im Moment so viel um die Ohren, Darling. Heute Abend ist Premiere in der Stadt, und dann É nun ja, wir haben gedacht, jetzt, da du ja nicht mehr hierÉ«
»Sag bitte nicht, dass du die Unterprivilegierten in meinem Zimmer einquartierst hast«, unterbrach ich sie harsch. »Ich will nicht, dass mein Bett mit Läusen oder sonst was verseucht wird.«
»Ach, doch nicht die Unterprivilegierten, nein, nein«, sagte sie mit seidenweicher Stimme. »Harry, wir haben es Harry gegeben.«
Sie wartete eine Sekunde, und dann, als ich nichts sagte, fügte sie munter hinzu: »Aber wenn du wirklich mal in der Klemme bist, du kannst natürlich immer auf der Couch schlafen É Vielleicht hat ja auch einer deiner Freunde ein Bett übrig, hmm?«
»Ja, sicher, gute Idee«, sagte ich mit zusammengepressten Zähnen, als wäre ich darauf noch gar nicht gekommen. »Ich ruf gleich mal rum.«
»Und wenn du nichts findest, Darling, ruf ruhig wieder an, ja?«
»Ja, sicher, mach ich.«
»Das ist jetzt die Gelegenheit für dich, Charles. Du hast die Flügel ausgebreitet, jetzt musst du fliegen. Wir sind ja alle so furchtbar stolz aufÉ«

I
ch legte auf. Harry! Mein Blut kochte vor Zorn. Dieser eingebildete Affe mit seinen Trojanischen Pferden und der extravaganten Frisur, jetzt war doch tatsächlich er das Goldstück. Ich hob den Hörer wieder ab, rief die Rezeption an und sagte ihnen, dass ich verlängern wolle.
»Gewiss, Sir«, sagte das Mädchen. »Ihre Zimmernummer, bitte.«
Ich gab ihr die Nummer. »Einen Augenblick, bitte«, sagte sie.
»Mr. Hythloday?«, sagte sie, als sie wieder dran war.
»Ja?«
»Tut mir Leid, Sir, aber es ist nichts mehr frei.«
»Auch kein Einzel? Für eine Nacht?«
»Tut mir Leid, Sir.«

D
er Bursche von der Rezeption war schneller gewesen! Allmählich beschlich mich das unangenehme Gefühl, Gefangener einer Maschinerie zu sein, auf die ich keinen Einfluss hatte. Als sei ich seit meinem Weggang aus Amaurot einem allmächtigen, launischen Schicksal unterworfen und könne nichts weiter tun, als diesem willenlos bis dahin zu folgen, wo es mich haben wollte. Ich nahm den letzten Baileys aus dem Kühlschrank unter dem Spiegel, schüttete ihn in einen Plastikbecher und ging zum Fenster. Das Radisson war von ein paar tausend Quadratmetern Park umgeben, Land, das früher zu einem Nonnenkloster gehört hatte. Vielleicht hatten die Nonnen hier bei schönem Wetter Schlagball und Blinde Kuh gespielt. Es half nichts: Ich würde mir ein anderes Hotel suchen müssen, vorzugsweise ein billiges. Ein paar gültige Kreditkarten hatte ich noch. Ich ging zurück zum Nachttisch, hob den Telefonhörer ab und wählte Franks Nummer, um ihm zu sagen, dass der Umzug abgeblasen sei.
»Was ist passiert?«, fragte Frank. Er hatte mit irgendwas den Mund voll.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte ich gereizt. »Der Punkt ist, dass ich für ein paar Wochen was anderes finden muss.«
»Kostet dich wahrscheinlich Õne Stange, oder?«, sagte er. »Diese Läden reißen einem ganz schön was raus.«
»Ich werdÕs überleben«, sagte ich knapp.
»Sicher«, sagte er und machte eine Pause, um seine Chicken Balls herunterzuschlucken. Plötzlich, mit der unerschütterlichen Gewissheit einer Offenbarung, wusste ich, was er da aß. »Tja, wie wärÕs, wenn du ein paar Tage bei mir pennst?«
Ich war von den Socken. »Was?«, stammelte ich.

E
r wiederholte sein Angebot, und ich suchte nach einer Ausrede, um nicht annehmen zu müssen. Doch nach all dem Durcheinander des Abends war ich unfähig, noch klar zu denken. »Ich will dir keine Umstände machen«, sagte ich lahm.
»Drauf geschissen«, beruhigte er mich.
Ich hatte den Eindruck, als hörte ich in weiter Ferne jemanden singen, vielleicht die Geister von Nonnen. »Nun ja, das ist sehr nett«, sagte ich und versuchte dankbar zu klingen. »Das ist wirklich sehr nett.«
»So bin ich halt«, sagte Frank.
Also nahm ich am nächsten Morgen meine Koffer, verließ das Zimmer, fuhr mit dem Lift hinunter in die Lobby und gab meinen Schlüssel ab. Jeder Bewegung, jeder winzigen zwischenmenschlichen Aktion schien eine besondere Bedeutung zuzukommen, als sei sie irgendwie geweiht, wie die Schritte, die ein Gefangener im Geiste mitzählt, während man ihn aufs Schafott führt. Frank wartete draußen. Er lehnte mit verschränkten Armen an seinem verrosteten weißen Lieferwagen. Auf die verdreckte Seite hatte jemand einen Penis gemalt. »Alles paletti?«
»Bombig«, sagte ich. »Bombig.«

F
ranks Wohnung befand sich in einem hohen Gebäude aus rotem Ziegelstein, das mal ein respektables, ja ehrwürdiges Stadthaus gewesen sein musste - georgianischer Stil, nach dem Oberlicht über der Haustür zu schließen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.04.2006