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Moment, ich mach eben die Kiste an.« Er drückte sich an mir vorbei und schaltete den altertümlichen Fernseher ein, der in einer Ecke kauerte. Eine Sekunde später tauchten zwei Frauen in Bikinis auf, die mit Knüppeln aus Schaumstoff aufeinander einprügelten. »Keine Angst, deine Augen gewöhnen sich schnell dran.«
»Ja, sicher.«
»Tasse Tee?«
»Ja, danke.« Ich ließ mich ganz vorsichtig auf der Kante eines Sessels nieder. Aus einem Riss an der Seite quollen die Innereien heraus. Ich saß mit zusammengepressten Beinen da und rührte nichts an. Der Boden war auffallend speckig, und wenn man genauer hinschaute, schien er sich zu bewegen.
»Und, wie gefälltÕs dir?« Franks Stimme kam aus dem Innern einer schwankenden Masse Gerümpel und Schrott.
»Nur Milch, bitte«, erwiderte ich matt. Es hing ein alles erschlagender Geruch in der Luft, eine ins Monströse verstärkte Version des Geruchs, den Frank mit sich herumtrug. Eine Zeitschrift namens Tittenparade lag auf dem Couchtisch. Die junge Dame auf dem Titel war vollkommen nackt, bis auf zwei sorgsam platzierte Zitrusfrüchte. Südfrucht-Suzys saftige Melonen stand darunter.
Frank hielt zwei Tassen in der Hand, als er wieder auftauchte. »Hier«, sagte er, reichte mir eine Tasse und setzte sich mir gegenüber auf ein grotesk unförmiges Sofa. »Also«, sagte er und breitete die Arme aus wie Kublai Khan, der Marco Polo in Xanadu willkommen heißt. »Was sagst du?«
»Nett«, krächzte ich. »Sehr nett.«
»Home sweet home«, sagte er liebevoll und schlürfte seinen Tee.
»AllerdingsÉ«, sagte ich.
»Ja?«
»Tja, etwas muss ich aber doch loswerden«, sagte ich in sorglosem, scherzhaftem Tonfall, um anzudeuten, dass es nicht bös gemeint war. »Euer Portier macht nicht gerade viel her.«
»Portier?«, wiederholte Frank.
»Ja, der Portier«, sagte ich und versuchte mein Lächeln durchzuhalten. »Nun ja, er schien mir doch ziemlich nachlässig zu sein.«
»Das war kein Portier, Charlie, der ist obdachlos.«
»Obdachlos?«
»Ja, der wohnt in dem Pappkarton da unten vor der Treppe.«
»Oh«, sagte ich mit dünner Stimme. »Ich hab mich schon gewundert, dass er keine Mütze aufhatte.«
Eine kurze Pause entstand. »Portier.« Frank kicherte in sich hinein.

L
icht kämpfte sich durch das eher knapp bemessene Fenster ins Innere, schwaches graues Licht, eher die Restmoleküle von Licht. Nachdenklich schaute ich in meinen mit irgendwelchen Bröckchen durchsetzten Tee. Nach einiger Zeit sagte ich die wohl überlegten Worte: »Ich nehme an, das ist auch der Grund, warum er so lange dafür braucht, meine Koffer nach oben zu tragen.«
Frank stellte seine Tasse ab. »Oh, CharlieÉ«
»Du nimmst wohl nicht an«, fügte ich vorsichtig hinzu, »dass er vielleicht vergessen hat, in welche WohnungÉ«
Aber da war Frank schon aufgesprungen und sprintete die Treppe hinunter. Ich lief hinter ihm her und traf ihn draußen vor der Haustür, wo er den Pappkarton und die Decke betrachtete, die bis vor kurzem von einem Obdachlosen/Portier bewohnt worden waren. »Scheiße«, sagte Frank und fuhr sich übers Kinn.
»Er ist weg«, sagte ich unnötigerweise. Die Straße war leer, bis auf zwei mondgesichtige Kinder, die uns von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachteten. Das eine stand in einem Einkaufswagen, das andere stand vor dem Wagen und hielt ihn am Griff fest. Beide standen regungslos da.
»Komm mit«, sagte Frank, stieß mich in die Rippen und marschierte die Straße hinunter. Wir kamen zu einer Kreuzung, an der zwei riesige Mietshäuser aus Schlackenstein aufragten. Wir bogen links ab und gingen an einem verlassenen, von Unkraut überwucherten Grundstück vorbei, auf dem ein ausgebranntes Auto neben dem anderen stand, und kamen schließlich zu einem länglichen Betonbunker mit Metallrolläden. Ich trottete hinter Frank her, der vor der Eingangstür stehen blieb.
»Was ist? Ist er da drin?«
»Charlie«, sagte er ernst. »Du darfst nie, niemals hier reingehen, alles paletti?«

G
ut«, piepste ich. Er ging hinein, und ich wartete. Ich steckte die Hände in die Taschen, flötete unmelodisch vor mich hin und versuchte mich der Umgebung anzupassen. Es war schwer zu sagen, welche der Häuser bewohnt waren. Die Ladenfronten waren mit schweren Gittern verrammelt. In manchen Blocks hing Wäsche auf den Balkonen, aber die Haustüren waren mit Brettern vernagelt und mit Graffiti übersät. Manche Häuser waren so baufällig, dass sie unbewohnbar für Mensch wie Tier schienen. Doch dann hörte man aus einem der oberen Stockwerke ein Radio dudeln, oder ein Kind steckte den Kopf aus dem Fenster und spuckte auf den Gehweg.

Nach, wie mir schien, langer Zeit kam Frank zurück. In einer Hand trug er einen einzelnen Koffer, den die Gäste des Pubs freundlicherweise bereit gewesen waren, für einen geringen Betrag zu verkaufen, nachdem er ihnen erzählt hatte, dass ich fälschlicherweise einen drogensüchtigen Obdachlosen für einen Portier gehalten hatte.
»Oh«, sagte ich und fügte, um meine Verzweiflung zu kaschieren, an: »Das ist also ein Pub?«
Der Laden hieße Coachman; das Schild sei gestohlen worden. »Hast du wahrscheinlich schon mal im Fernsehen gesehen«, sagte Frank, während wir den Hügel hinauf zurück zu seiner Wohnung gingen. »Ist ziemlich oft in den Nachrichten.«
»Hat einer was über meine anderen Sachen gesagt?«, fragte ich traurig, während ich den jetzt eindeutig leichteren Koffer schüttelte.
»Nein.«
»Ich frage mich, wo sie sind.«
»Weiß nicht«, sagte Frank gleichmütig. »Weg.«
Es fing wieder an zu regnen.
»Ich nehme nicht an, dass es irgendeinen Sinn hat, die Polizei zu informierenÉ«
»Die kommt hier schon lange nicht mehr hin, Charlie.«
»Oh.« Die Verbände sogen sich voll Wasser. Mein Kopf wurde kalt und fühlte sich an wie eingeschnürt.
»Nun ja«, sagte ich nachdenklich - darauf bedacht, die Contenance zu wahren, solange Frank bei mir war. »Wahrscheinlich hat der obdachlose Bursche das Geld wesentlich nötiger als ich.«
»Schätze, der ist jetzt unterwegs und besorgt sich Stoff.«
»Ja, richtig.«
»Er ist kein schlechter Kerl oder so, man darf ihm halt nicht sein Zeug dalassen, damit er drauf aufpassen soll.«
»Richtig.« Wir bogen wieder in seine Straße ein. Die mondgesichtigen Kinder standen immer noch da, wo sie vorher gestanden hatten. Frank schloss die Haustür auf, und ich schaute reumütig den Karton und die schmuddelige Decke an. An den Türpfosten hatte jemand in kleinen schwarzen Buchstaben das verwegene Graffiti arm the homeless geschrieben.
»Home sweet home«, sagte Frank und ging hinein.

E
twas traf mich am Hinterkopf. Ich drehte mich um und sah einen grauen Kieselstein auf dem Gehweg liegen. Die mondgesichtigen Kinder grinsten höhnisch herüber. Ich folgte Frank ins Haus.
Und so zog ich in Apt. C, Sands Villas, Bonetown, ein.
Der erste Anlaufpunkt nach meinem Auszug aus Amaurot in jener Nacht war das Radisson in Mount Merrion gewesen, wo ich mir eine Suite nahm. Das Hotel verfügte über Sauna und Pool und bereitete eine exzellente Seezunge, allesamt Umstände, die mir in jenen ersten traumatischen Tagen in der Fremde einen gewissen Trost boten. Ich fand heraus, dass ein alter Kumpel von mir, Boyd Snooks, zufällig ab nächster Woche in seinem Haus ein Zimmer zu vermieten hatte. Ich rief ihn an, und er versprach, es für mich freizuhalten. Boyd war ein fröhlicher, unbekümmerter Bursche, der zu Schulzeiten dafür berühmt gewesen war, dass er seine Augendeckel umstülpen konnte. Obwohl noch der Schatten des ungnädigen Abschieds aus Amaurot auf mir lastete, überzeugte er mich davon, dass mich chez lui scharfe Zeiten erwarteten. Das Erdgeschosss seines Hause würden sich drei junge Stewardessen teilen, ebenfalls fröhlich und unbekümmert, die obendrein, so Boyd, eine Schwäche für ein eigenartiges Spiel namens Strip Poker hätten.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Mir ist einfach der Gedanke zuwider, dass ich Bel verlassen sollÉ«
»Stewardessen, Charles«, sagte er mit heiserer Stimme. »Svenska Air. Weißt du, was das ist? Das ist die staatliche schwedische Fluggesellschaft. Das sind Schwedinnen, Charles. Und sie spielen alle beschissen Poker, die besaufen sich und dann vergessen sie die RegelnÉ«

K
urz, alles schien sich prächtig anzulassen, und ich fing schon an mich zu fragen, ob ich die Härten eines Lebens in der realen Welt nicht falsch eingeschätzt hatte. Trotzdem blieb ich die meiste Zeit des Tages auf meinem Zimmer, für den Fall, dass Mutter anrief, um sich bei mir zu entschuldigen und mich, ihren einzigen Sohn, anzuflehen, doch diesen ganzen Unsinn über die Arbeit zu vergessen und nach Hause zurückzukommen. Aber sie rief nicht an, und am Ende der Woche fieberte ich dem Umzug entgegen, nur um endlich aus diesem Hotel herauszukommen. Trotz Pool und Seezunge war es tödlich langweilig; außerdem machte ich mir ziemliche Sorgen wegen des Lochs, das der Aufenthalt in mein Budget reißen musste. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.04.2006