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Es war ein bisschen so, wie wenn der Babysitter einen aufbleiben lässt, damit man sich den Horrorfilm anschauen kann - zu merkwürdig und gruselig, dass es einem richtig Spaß machen würde, aber fraglos auch eine einzigartige Gelegenheit. Also hält man den Mund und passt auf, dass man nicht auffällt. Er sprach zwar mit lauter und keuchender Stimme, aber sein Vortrag wurde immer unverständlicher, und sein Gesicht fiel immer mehr auseinander. »Éimmer nur rumplanschen É spinnen sich was zusammen von einem Traumland mit Beaujolais und diesem widerlichen Käse und müllen jeden Nichtsahnenden damit voll É Weiber, die Cremes und Wässerchen schnorren É Scheiße, ich sollte meine nächste Linie Lazarus taufen, ha, haÉ«
»Dad?« Ich zog an seiner Hand.
Überrascht schaute er nach unten. Der weiße Hemdkragen unter seinem roten Gesicht war ihm viel zu eng.
»Wie ist die Brioche?«, fragte er.
»Okay«, sagte ich und biss schnell ein Stück ab, weil ich in derselben Sekunde merkte, dass ich am liebsten weinen würde.
»Alle Caterer gehören erschossen.« Er lachte, und sein Gesicht wurde wieder straffer. »Hast du das Tennisspiel gesehen heute? Den Lendl? Der kann was, he?«
»Ja, aber Boris Becker schlägt ihn sicher.«

B
oris Becker! Jetzt hör mal zu, mein Junge, an dem Tag, an dem ein rothaariger Deutscher É ein rothaariger Deutscher, schon das passt ja vorn und hinten nicht zusammen É Also, an dem Tag, an dem ein rothaariger Deutscher Wimbledon gewinnt, fress ich höchstpersönlich einen Besen. Deutsche können nicht auf Rasen spielen. Die sind zu analytisch. Auf Gras gewinnen nur Künstler. Pancho Gonzales, hast du den mal spielen sehen? Das war einer! Eine Augenweide. Darum gehtÕs doch letztlich. Oder nimm Cricket. Wer ist der größte Werfer aller Zeiten?«
»Weiß nicht. Underwood?«
»Für das ungeübte Auge vielleicht, aber wenn du einen wahren Könner suchst, dann musst du zurückgehen bis zu Rhodes. Hat über viertausend Punkte gemacht; er hatte diesen komischen Effet drauf, er É los, komm, ich zeigÕs dir.« Er nahm mich an der Hand und ging mit mir hinaus in die Halle. »ÝDas Unrecht der formlosen Dinge ist ein Unrecht, das kein Wort beschreibt.Ü Weißt du, wer das gesagt hat?«
»Yeats?«

S
ehr gut, mein Junge.« Er war beeindruckt. Wir gingen zur Haustür. »Mist, es regnet! Was sollÕs, wir brauchen sowieso nur eine Minute, deine Schuhe hast du ja an, oder?«
Verwirrt folgte ich ihm die Eingangsstufen hinunter auf den Rasen. Während ich zitternd im nächtlichen Nieselregen stand, baute er hektisch aus zwei Weinflaschen und einem Frisbee ein Tor auf. Dann lief er ins Haus zurück und holte Schläger und Ball. »Hier ist die Linie, okay?« Er kratzte mit den Absatz eine schlammige Markierung in den Rasen. »Du schlägst als Erster. Und jetzt pass auf, so, sagen die Leute, hatÕs der alte Rhodes immer gemachtÉ«
Er hängte sein Jacket an den Seitenspiegel eines Autos und startete einen langen, hüpfenden Lauf. Als er sich umdrehte und den Arm in weitem Bogen herumschleuderte, schoss ihm der Hemdsärmel den Arm hoch. Der Ball verließ seine Hand. Ich schüttelte mir die Müdigkeit und das Bizarre der ganzen Situation aus den Augen, hielt mir das Schlagholz schützend vor die Schienbeine, als plötzlich direkt vor mir der Ball auftauchteÉ
»Bravo!« Beifall klatschend lief Vater zu mir zurück. »Gar nicht schlecht! Jetzt bist du dran.«
Ich hatte den Ball aus dem Unterholz geholt und wollte gerade zu meinem Lauf starten, als in der Tür eine Silhouette auftauchte und sich danach erkundigte, was genau wir eigentlich da täten.
»Wir führen gerade eine sehr wichtige philosophische Debatte«, sagte Vater. »Wir stellen ein paar Dinge richtig.«
»Wäre es zu viel verlangt, wenn ihr das im Haus erledigen könntet?«, sagte Mutter mit eisiger Stimme.
»Eine Minute noch.«
Mutter nahm den Arm vom Türsturz und drückte ihn fest gegen die Brust. »Die Leute fragen schon nach dir«, sagte sie und fügte hinzu: »Dein Gast kommt sich sicher sehr verlassen vor.«
»Los, Charles, zeig mir, was du draufhast.« Er winkte mir zu, er wollte den Ball. Gehorsam lief ich los.
»Wir wollen ihr doch keinen Anlass zum Stirnrunzeln geben oder ihre lukrative Karriere gefährden«, sagte Mutter in bösartigem Singsang. »Was wohl deine Versicherungsgesellschaft dazu sagen würde?«

H
errgott noch mal!«, brüllte er und drehte sich zu ihr um. Die Fliege hing schief unter seinem Kinn. »Eine Minute, hab ich gesagt. Siehst du nicht, dass ich mit dem verdammten Jungen spiele?«
Mutter trat mit dem rechten Fuß auf die nächstuntere Stufe und schrie: »Nicht mal das kannst du richtig machen. Wochenlang sprichst du kein einziges Wort mit dem Jungen und dann hältst du ihn die halbe Nacht auf Trab, bloß weil du auf einmal väterliche Gefühle bekommst.« Sie zuckte zurück, als er das Schlagholz in ihre Richtung schleuderte. Es landete auf dem Kies und schlitterte unter ein Auto. Mutter wirbelte auf dem Absatz herum, stapfte zurück ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Ich holte das Schlagholz und wartete. Vater stand unter einem Baum und rieb sich die Schläfen.
»Dad, soll ich jetzt werfen?«
»Entschuldige, was?«
»Bist du so weit, oderÉ?«
»Lass uns Schluss machen, Junge, Zeit fürs Bett. Deine Mutter hat Recht, du solltest schon lange schlafen.« Seufzend schlurfte er auf mich zu. Er tätschelte meinen Kopf, drehte sich dann um und schaute über die Bucht. Er klimperte in der Hosentasche mit seinen Schlüsseln und räusperte sich. Wir schauten noch eine Zeit lang in die Bucht, dann sagte er: »Die Sache ist die, Charles, das Leben und Cricket haben viel gemein. Das Tor ist É nein, was sollÕs, hör mir mal zu jetzt É Das Leben ist eine schmutzige Angelegenheit, es kann eine schmutzige Angelegenheit seinÉ« Sein Atem haute mich fast um. »Was ich will, für dich und deine Schwester, für dich und Christabel, das ist É Ich will nicht, dass ihr beide euch durch diese É diese É Scheiße wühlen müsst, verstehst du?«
Vater fluchte sonst nie in unserer Gegenwart; mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Ja, Dad.«
»ÝFormlose DingeÜ, denk dran. Die Welt steckt voller formloser Dinge. Manche sehen allerdings durchaus formvollendet aus. Manche sogar ziemlich verlockend. Du kannst also auf niemanden hören. Was du tun musst, ist É Was du tun musstÉ« Er hörte auf zu sprechen, anscheinend hatte er den Faden verloren. Er drehte sich um und schlurfte zum Haus zurück, wobei er sich gedankenverloren am Kinn zupfte. So erfuhr ich nie, was ich hätte tun müssen, ich konnte nur so gut wie möglich raten. Und während ich gut fünfzehn Jahre später die Tür des Musikzimmers leise schloss, musste ich zugeben, dass ich durchaus falsch gelegen haben könnte.

W
ährend ich mit dem Koffer in der Hand durch die Halle ging, klimperte jemand auf dem Klavier das melancholische »Somewhere Over the Rainbow«. Stimmen sangen vereinzelte Textzeilen: »ThereÕs a land that I dreamed ofÉ« Ich ging am Glasfries des Actaeon vorbei zur Tür und betrachtete durch den feinen Nieselregen mein verlorenes Königreich: die von den Vögeln im Stich gelassenen Bäume, das verbogene Eisengerüst, wo mal der Turm gestanden hatte.
Würde uns der Wirbelsturm, der uns aus unseren Leben gerissen hatte, je wieder im guten alten Schwarzweiß-Kansas absetzen? Oder konnte man nicht zurück? Gab es das nur in Märchen, und gab es in der realen Welt, die alle so aufregend fanden, nur dieses grelle Technicolor, diese erbarmungslose, sinnlose Art der Fortbewegung?
»Birds fly over the rainbow«, ertönte es von drinnen, »why then, oh why canÕt I?«
Wie betäubt ging ich die Stufen der Veranda hinunter. Ich ging an Franks von Saabs und Jaguars eingekeiltem Lieferwagen vorbei und fragte mich kurz, ob ich Frank je wiedersehen würde. Dann zog ich ein zermanschtes Kanapee aus der Hosentasche und machte in Dunkelheit und Regen die ersten Schritte meines Lebens, die mich von Amaurot wegführten.


Sieben
Das ist wirklich anständig von dir.«
»Alles klar, Charlie, kein Problem.«
»Ist nur für eine Woche oder so, bis ich was gefunden habeÉ«
»Fühl dich wie zu Hause, Charlie.«
»Ja, gut, danke.« Wir blieben vor einer einfachen weißen Holztür stehen. Ich summte nervös vor mich hin, während Frank nach dem Schlüssel suchte.
»Los, rein mit dir«, sagte Frank. »Alter vor Schönheit.«
»Ha, ha, danke.« Vorsichtig machte ich einen Schritt in das Halbdunkel. »Oh, hmm, vielleicht ein bisschenÉ«
»Ziemliches Chaos, ich weiß, komm einfach nicht zum Aufräumen.«
»Nein, nein, ganz und gar nicht, ist doch É O Gott, ich glaube, jetzt bin ich gerade in É äh, in einen Teller Spaghetti getreten.«
»Macht nichts, Charlie, hatte sowieso keinen Hunger mehr.«
»Ah, gut, Gott sei Dank. Ist wohl eher so eine Art Atelier, oder? Hast du es eigentlich immer so duster hier?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.04.2006