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Doch sogar als ich meine Koffer packte, als ich die Treppe wieder hinunterging, als ich den Mantel aus der Garderobe nahm und ein paar Minuten länger als unbedingt nötig den imaginären Staub vom Revers wischte, sogar dann noch hätte ich sicher meinen Koffer ins Eck geschleudert und die ganze Geschichte mit einem Lachen aus der Welt geschafft, wenn nur einer gekommen wäre und versucht hätte, mich aufzuhalten. Komm schon, Charles, lass uns noch mal über die Sache reden. Oder: Stell dich nicht so an, alter Junge, los, wir gehen jetzt einen trinken. Ich ging sogar zurück ins Musikzimmer, nur für den Fall, dass jemand die Absicht gehabt hatte, aber irgendwie aufgehalten worden war. Ich stand neben der Tür und schaute sie mir an, wie sie redeten und lachten und wie bunte Rauchschwaden im Zimmer herumwirbelten. Aber niemand kam.

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inmal, vor vielen Jahren, ich muss so um die zehn gewesen sein, da schmuggelte ich mich in eins der Feste meiner Eltern. Als Mutter mich zu Bett brachte, hatte sie mich wie immer darauf hingewiesen, welch grauenvolle Dinge mir widerfahren würden, sollte ich mich aus meinem Zimmer stehlen. Aber ich konnte einfach nicht länger ertragen, nicht zu wissen, was da unten vorging. Also schlich ich mich kurz nach elf die Treppe hinunter. Wie es das Schicksal wollte, lief ich direkt Vater in die Arme. Ich dachte, er würde wütend werden, aber er war aufgeräumter Stimmung und sagte, da ich nun schon mal so neugierig sei, dürfe ich auch ganz kurz bleiben, vorausgesetzt, ich setzte mich still in eine Ecke und passe auf, dass Mutter mich nicht zu Gesicht bekam.
Anfangs war es so aufregend, dass ich ganz überwältigt war. Der Ballsaal war ein Dschungel aus teuren Stoffen, in dem der Dunst von einem Dutzend miteinander vermischter Parfüms hing, die alles Mögliche verhießen, von dem ich keine Ahnung hatte. Es war dunkel, und doch sah ich überall Licht, wohin ich auch schaute. Es fing sich in Platten mit geheimnisvollem Essen, es brach sich in tänzelnden Gläsern mit Shiraz und Sauvignon, es glitzerte auf Halsbändern, Ringen, Diademen. Wenn man seine Augen halb zumachte, glaubte man, die Luft vibriere vor Glühwürmchen. Und erst der Lärm! Wer hätte sich vorstellen können, dass ein Saal voller Erwachsener, die sich über nichts unterhielten, so einen Krach machen konnte?
Das Ungewöhnlichste jedoch waren die dünnen Mädchen, die hier und da zwischen den umherwandelnden Gästen eingestreut waren. Wie Statuen in einem Park überragten sie die Köpfe aller anderen Gäste. Sie sahen sehr gelangweilt aus und sprachen nie. Das waren Vaters Models; sie präsentierten seine neuen Kosmetiklinien, bevor sie auf den Markt kamen. Sie sollten auch nicht sprechen, das hätte ihre Wirkung schmälern können. Vater nannte sie seine »Gemälde«: Die Idee war, dass die Gäste stehen bleiben, sie studieren und dann weitergehen konnten zur nächsten Gesprächsrunde.

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enn ich sie in den Tagen vor diesen Festen sah, wie sie aus Vaters Arbeitszimmer kamen und die Treppe hinunterhüpften, sahen sie gar nicht so viel älter aus als ich. Manche von ihnen waren nett; sie kamen von überall her, obwohl die meisten in Paris lebten, weil sie in dem dortigen Labor arbeiteten. Doch an diesem Abend hatte man sie so verwandelt, dass sie nicht mehr wie Menschen wirkten. Sie verströmten eine apokalyptische Aura, die einem fast Angst machen konnte, als befänden sie sich außerhalb der Zeit oder als bestünden sie durch und durch aus einem einzigen Stoff, ohne Blut und Eingeweide. Ihre Augen schauten dich an, und ihr Blick ging direkt durch dich hindurch. Sie standen in regungslosen Arabesken mit angewinkelten Armen und Beinen da, stumm leuchtend wie unbezahlbare, übernatürlich schöne Anglepoise-Leuchten.
Hin und wieder verirrten sich Gäste in meine Ecke - hagere Couturiers mit rasierten Schädeln oder gruselige, sinnlich wirkende Männer mit zerknitterten Samtanzügen und Brillantine im Haar, die parfümierte Zigaretten rauchten und die, im Rückblick, auch Frauen gewesen sein könnten. »Oh«, sagten sie, wenn sie in meine zehnjährigen Augen blickten, »hallo.« Dann zogen sie an ihren Zigarettenspitzen aus Elfenbein oder machten nervöse Goldfischmünder und gingen schleunigst dahin zurück, wo sie hergekommen waren.

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ber wohin gingen sie, begann ich mich zu fragen, was hatten diese Leute vor? Wann, kurz gesagt, ging es hier richtig los? Es dauerte noch lange, bis mir dämmerte, dass dieses Herumgehen und Reden der alleinige Sinn des Abends war. Ich war bitter enttäuscht. Wenn jetzt die mit Juwelen behangenen alten Damen vorbeikamen, um mir den Kopf zu tätscheln, bemühte ich nicht mehr mein bestes Pfadfinderlächeln; ich wusste ja, dass keine von ihnen sagen würde: Charles, mein Junge, sie bauen gerade das Trampolin auf, hättest du Lust, als Erster zu springen? Oder: Charles, wir haben dieses langweilige Fest nur aufgezogen, um einen Spion in die Falle zu locken. Wir brauchen jetzt eine unauffällige Person, zum Beispiel einen kleinen Jungen, der ihn oder sie enttarnt.
Und worüber die Leute redeten, war noch nicht mal interessant. Die Männer ließen sich über Prozentpunkte aus oder Herrn Soundso, der es bestimmt nicht schaffen würde, oder die letzten Rugbyspiele, die sie gesehen hatten. Währenddessen waren die Frauen ganz hin und weg wegen Yves St.Laurents neuem Abdeckstift, einem Wunder an trompe lÕÏil, das das Licht von den Falten wegreflektiert oder so. »Dein Vater ist ein Genie«, sagten sie zu mir. »Wie gehtÕs Yves denn so?«, fragten sie meinen Vater. »Wie immer, bläst Trübsal«, sagte Vater mit einem leichten Seufzer. Dann kreischte jemand von der Terrassentür, »Der Beaujolais ist da!«, und alle drängelten los, während Vater und ich allein zurückblieben und ihren Rücken hinterherschauten.
»Nun?«, sagte er zu mir. »Lektion kapiert?«
»Was?«, sagte ich. »Äh É wie bitte?«
»Sieht nicht so aus, als würdest du dich prächtig amüsieren.«
»Mmm.« Weil ich seine Gefühle nicht verletzen wollte, versuchte ich, meine Worte sorgfältig zu wählen. »Kommt mir nicht so vor, als wär das ein so tolles Fest.«
»Nicht wahr.«
»Es gibt gar keinen Kuchen«, merkte ich an. »Noch nicht mal Stühle. Und keiner hat ein Geschenk mitgebracht.«
»Ich wär jetzt lieber im Bett, wenn du mich fragst.«
»Dad É was wollen die alle?«

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ater lachte sein lautes, schmetterndes Lachen, über das Mutter sich ständig beklagte. »Das ist eine gute Frage, mein Alter. Sehr gute Frage. Was also wollen sie?« Er trank einen Schluck Wein. »Also É was du hier siehst, ist ein Raum voll mit sehr wichtigen Menschen. Und was wichtige Menschen mehr als alles andere auf der Welt mögen, ist, dass man ihnen das Gefühl gibt, dass sie wichtig sind. Was machen sie also? Sie gehen auf Feste wie das hier, wo sie andere wichtige Menschen treffen, mit denen sie über wichtige Dinge wichtige Gespräche führen können, damit sie sich alle zusammen wichtig vorkommen. Ob sie sich amüsieren? Weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass sie es selber noch wissen. Sie werden mit der Zeit so wie die Pfauen draußen im Park - glaubst du, die amüsieren sich?«
»Weiß ich nicht«, brummelte ich.

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atürlich nicht. Sie stolzieren herum und zeigen sich gegenseitig ihre Federn - was für eine Art Amüsement soll das denn sein?« Vater leerte sein Glas mit einem Zug, dann stand er auf, runzelte die Stirn und sammelte sich. »Die Sache ist die, Charles, also É die Sache ist die, alter Knabe, dass, egal, was man euch in der Schule erzählt - und es ist natürlich sehr wichtig, dass man in der Schule aufpasst und sich anstrengt und so viel lernt wie man kann É Hörst du mir zu?«
»Ja, Dad. Aber jetzt sind grade Ferien.«

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a, natürlich, sicher, braver Junge É äh, wo war ich? Ach jaÉ Die Sache ist die É die Welt ist kein Swimmingpool, wo jeder im selben Wasser rumplanscht, äh, mit Klamotten natürlich. Es sieht vielleicht so aus, aber in WirklichkeitÉ« Er hob zur Betonung einen Zeigefinger, so ruckartig, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. »In Wirklichkeit gibt es noch einen zweiten Swimmingpool, einen winzig kleinen, und die Leute, die da drin sind, das sind die, dieÉ« Er winkerte mir bedeutungsvoll zu. »Es istÉ wie heißt noch mal dieser Typ in Flash Gordon, der Böse?«
»Ming der Gnadenlose?«
»Genau, der. Also, schau dir die Leute hier an. Man könnte meinen, dass ist bloß eine Bande alter Tattergreise, aber alle zusammen schmeißen sie den ganzen Laden, so wie Ming das in É wie heißt das noch mal, wo die leben?«
»Mongo.«
»Genau, Mongo. Also, wie gesagt, obwohl das hier wie eine Party aussieht, wo man sich vielleicht ein bisschen amüsieren kann, ist das eigentlich doch mehr Arbeit, weil nämlich hier all die Leute aus dem kleinen Swimmingpool ihre Deals machen und ihre Entscheidungen treffen. Also ist es wichtig, dass wir nett zu ihnen sind, nett und höflich, und dass wir ihnen zu essen geben. Einer Frau wie deiner Mutter liegt das im Blut. Sie ist in einem Haus wie diesem hier aufgewachsen, mit all den Großen und Mächtigen, dieÉ«
Ich hatte Vater noch nie so reden hören.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.04.2006