22.04.2006
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Ich schüttete meinen Drink hinunter und wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab. »So reizend kommt er mir nicht vor«, grummelte ich aufsässig. »Und sonderlich unterprivilegiert auch nicht. Keiner von denen.«
»Charles«, sagte Mutter scharf und schaute sich um, ob jemand mitgehört hatte. »Darum kümmern wir uns zu gegebener Zeit. Wichtig ist jetzt nur, dass ein Anfang gemacht wird und alles ins Rollen kommt. Dann können wir uns um die Feinarbeit kümmern und nachforschen, wer unterprivilegiert ist und wer nicht. Bis jetzt ist es jedenfalls ein bemerkenswerter Erfolg. Ein bemerkenswerter Erfolg.« Sie drehte an einem ihrer Ringe und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Bleibt nur noch die Frage, was mit dir geschehen soll«, sagte sie.
»Mit mir?«
»Richtig, was sollen wir mit dir anfangen, Charles?«
Böses ahnend kratzte ich den Verband rund um die Nase. »Ach was, um mich braucht man sich keine Sorgen zu machen«, sagte ich großmäulig und schenkte mir zitterig noch ein Schlückchen Brandy ein. »Du kennst mich, ich bin ganz zufrieden, wenn ich so vor mich hinwerkeln kann, dann und wann ein Film oder ein Gläschen WeinÉ«
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»Ich glaube, dass du da ein bisschen zu streng mit dir insÉ«
»Dank dieses neuen Projekts scheint Bel ihre Energien nun endlich auf ein sinnvolles Ziel zu richten. Ich muss zugeben, dass dies weitgehend Mirela zu danken ist, die einen positiveren Einfluss auf sie hat als möglicherweise Vater und ich in den letzten Jahren. Du scheinst mir allerdings ein ziemlich hartnäckiger Fall zu sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir anschaue, wie dieses Mädchen allen Widrigkeiten getrotzt und sich auf eine Weise in den Haushalt eingefügt hat, die zur Ehre ihrer lieben Mutter gereicht, und wenn ich mir dann dich anschaueÉ«
»Ich füge mich sehr wohl in den Haushalt ein, Mutter. Sei jetzt bitte nicht so hart.«
»Den ganzen Tag auf der Couch rumliegen, nennst du das einfügen, Charles?«
»Ich bin krank«, protestierte ich. »Wenn man krank ist, dann macht man das - rumliegen.«
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»Du hast schon zu lange in Saus und Braus gelebt«, sagte Mutter. »Es ist höchste Zeit, dass du dir Arbeit suchst.«
Arbeit!
Das war also der Dank dafür, dass ich versucht hatte, ein paar letzte Zipfel der Familienwürde zu retten. Ich lag noch komatös im Krankenbett, da besiegelte man schon mein Schicksal. Arbeit! Die Wände des Musikzimmers stürzten auf mich herab. Arbeit!
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»Hilfe durch Selbsthilfe«, sagte sie. »So haben sie das im Cedars genannt. Eines Tages wirst du mir dafür danken.«
»Sicher nicht«, sagte ich.
»O doch«, sagte sie. »Das Leben ist eine kostbare Sache, Charles. Es ist an der Zeit, dass du deine Möglichkeiten voll ausschöpfst und den wahren Wert der Dinge begreifst.«
»Du redest wie ein Stalinist!«, schrie ich. »Die Leute gehen nicht zur Arbeit, weil sie etwas ausschöpfen und irgendwelche Werte begreifen wollen! Sie arbeiten, weil sie müssen. Und dann nehmen sie das, was ihnen davon übrig bleibt, und kaufen sich irgendwelche Sachen, damit sie ihre beschissene Arbeit ein bisschen vergessen! Kapierst du das nicht?Das ist ein Teufelskreis!« Ich hörte auf zu reden und zerrte an meinem Verband. Das Jucken hatte sich inzwischen meines ganzen Kopfes bemächtigt; es wurde immer schlimmer, und das Kratzen half überhaupt nichts. Kühl wandte sich Mutter wieder den Leuten im Raum zu. Das leuchtend rote Gesicht war inzwischen vom Klavierdeckel entfernt worden, und jemand stimmte gut gelaunt einen Trauermarsch an. »Scheiße!«, rief ich zornig. »Scheiße! Wenn du nur einen Tag in deinem Leben gearbeitet hättest, würdest du das nicht für einen Heidenspaß haltenÉ« Mutter versteifte sich, ihr Gesicht wurde alabasterweiß. »Äh, ich meine, du hast natürlich in deinen Wohltätigkeitsorganisationen gearbeitet«, sagte ich schnell und erblickte gleichzeitig einen Rettungsanker. »Vielleicht könnte ich ja auch was in der Richtung machen.« Das schien nicht sonderlich schwer zu sein. Gala-Diners, Weinproben, Promi-Versteigerungen, alles Dinge, denen ich durchaus gewachsen war. Das Glas in Mutters Hand begann zu zittern. »Oder É wie wärÕs mit Wein? Ich könnte meinen eigenen Wein machen, in unserem Garten, den könnte ich dann verkaufenÉ«
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»Na wunderbar!« Ich warf die Hände in die Luft. »War ich nicht der Einzige, der sich um das Haus gekümmert hat? War ich nicht derjenige, der alles in Schuss gehalten hat, während du nicht da warst, der Mrs P gesagt hat, was zu tun ist, der die Pfauen gefüttert hat und der sie begraben hat, wenn sie gestorben sind? Aber wenn alle nur glauben, dass ich so eine Art Schnorrer bin, ja dannÉ«
»Es gibt keinen Grund, laut zu werden, Charles.«
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»Niemand beleidigt dich, Charles. Wenn du nicht mal in der Lage bist, ein ruhiges, vernünftiges GesprächÉ«
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Wortlos trat Mutter zur Seite. Mit wild klopfendem Herzen marschierte ich zur Tür. In der Halle ragte bedrohlich die Treppe auf, die mit ihren Spitzen und Schatten aussah wie ein Requisit aus einem deutschen expressionistischen Stummfilm. »Ein Schnorrer!« murmelte ich, während ich die Stufen hinaufging. »Ein Schnorrer!« Das war einfach zu monströs. Mich der Lethargie, der »chronischen Faulheit« zu beschuldigen, nach allem, was ich für das Haus getan hatte, mir vorzuwerfen, ich kümmerte mich um nichts, während ich mich pausenlos gekümmert hatte.
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Artikel vom 22.04.2006