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Hier und da sah man noch Spuren seiner glanzvolleren Vergangenheit: grazile Schnörkel an den Simsen, Überreste des ursprünglichen Putzes. Aber das waren nicht mehr als Spuren, wie Tonscherben im Dreck. Der Ruß von Jahrzehnten hatte die Fassade geschwärzt und zerfressen. Das ursprüngliche Innenleben des Hauses war im Zuge der Aufteilung in immer kleinere Wohnungen fast gänzlich ausgeweidet worden. Der aktuelle Hausbesitzer war ein ehemaliger Polizist, der in der Gegend mehrere Objekte besaß und laut Frank sogar für einen Bullen ein »ziemlicher Scheißhaufen« war.
Apt C bestand fast völlig aus Ecken. Als hätte der Bauherr aus allen Nischen und Vertiefungen, die am Ende übrig geblieben waren, noch eine Extrawohnung zusammengeschustert. Die Zimmer schwankten irgendwie, was im Bauwesen eher unüblich war. An bestimmte Wände konnte man sich nicht anlehnen, weil - Zitat Frank - »die die Decke oben halten«. Sogar das Tageslicht hatte seine Mühe, sich in den Extravaganzen der Wohnung zurechtzufinden: Es fiel durchs Fenster und hielt dann abrupt, sozusagen mit einem Finger auf den Lippen, inne. Folglich war es immer ziemlich dunkel - oder dumpfig, ja, dumpfig war das bessere Wort. Es war die bei weitem dumpfigste Wohnung, in der ich je gewesen war.

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ch schlief auf einer Matratze von zweifelhafter Herkunft, in einem Raum, der etwa die Größe einer der kleineren Besenkammern in Amaurot hatte. Neben meinem Lager, aufgeschichtet zu einem kleinen Haufen, lagen jene Habseligkeiten, die die Gäste des Coachman freundlicherweise nicht gestohlen hatten - ein erbauliches Buch, Rasierzeug, mein zweitbestes Dinnerjackett, Socken, Gene-Tierney-Memorabilien, ein Tagebuch für Gedanken, die bis dato noch weitgehend ungedacht waren. Den meisten Platz in der Wohnung nahm Franks Schrott ein. Jeden Tag kam er mit mehr an. Er schleppte ihn in Kisten von seinem Lieferwagen in die Wohnung und kippte ihn hin, wo gerade Platz war. Zigarettenetuis, Balettschuhe, Fensterrahmen, Gesangbücher, Ecksteine, Registrierkassen, Schaukelpferde, Tapetenleisten, Apparate mit fehlenden Teilen, Teile ohne die dazugehörigen Apparate- wohin man auch schaute, von überall blickten einen ausgemerzte Bestandteile von anderer Leute Leben an. »Ich kapierÕs einfach nicht«, sagte ich, während ich einen Tennisschläger ohne Bespannung inspizierte, den er gerade angeliefert hatte. »Woher weißt du, was noch einen Wert hat und was nur Müll ist?«
Er dachte kurz nach. »Was die Leute nicht kaufen, ist Müll«, sagte er.
»Oh«, sagte ich.

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as meiste kauften sie. Es waren unübersehbar gute Zeiten für das Entrümpelungsgewerbe. Die halbe Stadt wurde abgerissen und wieder neu aufgebaut. Man kaufte die Sachen für ein Butterbrot und verkaufte sie dann zu einem Spitzenpreis an all die Leute, die einen neuen Pub, ein neues Hotel oder ein neues Haus hatten und ihrem Besitz einen Hauch Authentizität verleihen wollten. »Dieser ganze alte Scheiß hier«, sagte Frank und wedelte mit der Hand über den neuesten Plunder, der auf dem Boden verstreut lag. »Hufeisen, Straßenschilder, Feuerwehrhelme und so was alles- die Burschen mit den Pubs prügeln sich drum. Die hängen sich den alten Krempel an die Wand, da sind die ganz geil drauf, damitÕs älter aussieht. Gleiche mit den Wohnungen. Die Leute wollen das nicht, dass das alles so neu ist. Die wollen sich dran erinnern, wie das in den alten Zeiten war.«
»Wenn die so scharf auf die alten Zeiten sind, warum hören sie dann nicht einfach auf, die alten Häuser abzureißen?«, fragte ich.
»Weil wir dann alle keinen Job mehr haben.«
So wie er in Haufen durcheinander dalag, schien der Schrott eine Art generischer Identität angenommen zu haben - sie erfüllte den Raum mit etwas Abgestandenem, Melancholischem, Vergangenem, wie der Duft eines alten Parfüms. Tagsüber, wenn Frank außer Haus war, hatte ich ein klein wenig das Gefühl, selbst ein Relikt zu sein. Ich hatte nichts zu tun, außer mit den Troddeln meines Morgenmantels herumzuspielen - was an sich nicht sonderlich ungewöhnlich klingen mag, aber es war eine andere Art des Nichts, es war ein nervöses, ruheloses, unbefriedigendes Nichts. Abgesehen von kurzen Ausflügen zur Tankstelle, wo man zu Fantasiepreisen das Notwendigste kaufen konnte, verließ ich die Wohnung kaum. Meistens saß ich am Fenster und schaute hinaus auf das grausige Elendsviertel.

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ie Straßen von Bonetown waren grau und trostlos, ohne Bäume, ohne jeden Farbtupfer, und dieses Grau und diese Trostlosigkeit hatten sich in die Gesichter der Bewohner eingegraben. Mir fielen zwei unterschiedliche Schichten innerhalb der Bevölkerung Bonetowns auf. Erstens: die Eingeborenen. Diese waren- offen gesagt - eine genauso rüpelhafte Bande von Rabauken, wie man sie überall auf der Welt findet. Sie waren ungehobelt, schlecht gekleidet, verbrachten ihre Tage damit, vom Pub zum Buchmacher und von da zur Tankstelle zu ziehen, und hatten eine anscheinend unendliche Zahl von Kindern - von denen viele, so mein Eindruck, eine starke physische Ähnlichkeit mit Frank aufwiesen. Als ich dies ihm gegenüber erwähnte, leckte er sich nur die Lippen und machte eine geheimnisvolle Bemerkung, dass eine äußerliche Ähnlichkeit ja noch keinerlei gerichtsverwertbare Beweiskraft habe.
Die zweite Gruppe, die nur wenig Kontakt mit der ersten hatte, war die der Ausländer. Diese traten in allen Formen und Größen auf und waren, so erzählte es mir wenigstens Frank, quasi über Nacht hier aufgetaucht. Niemand schien zu wissen, woher sie kamen und wie genau sie hier gelandet waren. »Vielleicht ist ja dieses Theater da unten in Bosnien schuld daran«, mutmaßte ich. »Wie bei Mrs P und ihrer Familie.«
»Oder woanders«, sagte Frank achselzuckend. »An Kriegen gibtÕs immer Nachschub.«
Keiner von ihnen schien Arbeit zu haben, was mich auf die Idee brachte, das zu unseren Gunsten auszunutzen und vielleicht einen von ihnen dazu zu bewegen, gegen ein relativ geringes Entgelt unsere Wohnung zu putzen. Frank zerstörte meine Hoffnungen jedoch umgehend. »Meine alte Dame war Putzfrau, Charlie«, sagte er. »Da hätt ich Õn komisches Gefühl dabei.«
Bei Nacht übernahm die ansässige Jugend den Straßenzug. Von denen, die kein Interesse daran hatten, die ältere Bevölkerung auszuplündern oder zu terrorisieren, erwartete man, dass sie sich ins Haus zurückzogen oder die Folgen trugen. Die Jugendlichen vergnügten sich auf vielfältige Weise. Manchmal zündeten sie Sachen an oder sprühten Hakenkreuze auf die Wohnungstüren von Asylbewerbern; gelegentlich tauchte auch einer von ihnen in einem gestohlenen Wagen auf und sorgte für ein paar fröhliche Stunden, in denen man die Straße rauf und runter donnerte. Meistens jedoch standen sie einfach in bedrohlichen Gruppen an Straßenecken herum und verkauften sich gegenseitig Heroin. Die Gebäude vibrierten von dem ewigen Gekreische. Immer fing irgendwo ein Baby an zu plärren, und durch die Wände konnte ich mir die Streitereien unserer Nachbarn anhören. Mehrmals hörte ich Schüsse, die aus der Richtung des Coachman kamen. Frank erzählte, dass Männer hier aus der Straße sich ihre Schrotflinten geschnappt, Sturmhauben übergezogen und den Laden ausgeraubt hatten, um dann am nächsten Tag wieder reinzumarschieren und mit der Beute ihre Drinks zu bezahlen.
Manchmal, wenn ich am Fenster vor mich hindöste, sah ich, dass ein Augenpaar aus dem gegenüberliegenden Wohnblock mich anschaute, und dann dachte ich an Mirela, wie sie mir engelsgleich aus dem Turm in Amaurot zugewinkt hatte. Oder ich sah die mondgesichtigen Kinder mit ihrem Einkaufswagen; das eine schob immer, das andere stand immer im Korb, hielt sich mit seinen kleinen Fingern am Gitterrand fest und schaute zur Seite. Sie rumpelten vorbei wie verdreckte Pilger, die ihre Mission und ihr Ziel vergessen hatten und nun endlose Runden in den immer gleichen Sackgassen drehten.

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ass mir das Zusammenleben mit Frank alles andere als angenehm war, muss wohl kaum erwähnt werden. Vor allem in den ersten Tagen - so ungefähr muss sich Jack gefühlt haben, zusammen mit diesem Engländer fressenden Riesen auf der Spitze der Bohnenstange. Ein Effekt des Hobbesschen Albtraums, der um mich herum ablief, war allerdings, dass Frank mir dadurch vergleichsweise harmlos vorkam. Außerdem hatte ich über so viele Dinge nachzudenken, dass ich mich schon bald an seine kleinen Gefälligkeiten wie Mahlzeiten aus der Mikrowelle oder schlechte Witze gewöhnt hatteÉ
»Hey, Charlie, weißt du eigentlich, wie Blondinen Vögel killen?«
»Komm grad nicht drauf, mein Alter.«
»Sie schmeißen sie vom Balkon.«
»Ha, ha, gut, sehr gut. Ich glaube, ich hau mich jetzt hin.«
»Es ist erst acht, Charlie.«
»Hab morgen einen schweren Tag«, sagte ich und erhob mich ächzend aus dem Sofa.
»Schweren Tag?«
»Na ja, nicht wirklich schwer, ich meine, ich dachte É vielleicht schaue ich mir den einen oder anderen Film an É Da fällt mir ein, könntest du mir vielleicht noch mal mit fünfzig Pfund aushelfen, alter Junge? Wir brauchen anständigen Wein. Wenn ich weiter diesen erbärmlichen Riesling trinken muss, krieg ich ein Magengeschwür.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.04.2006