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Täter-Stimmen jetzt abrufbar

Merkel erschüttert über Überfall in Potsdam - Kampf gegen rechte Gewalt

Berlin (Reuters). Nach dem fremdenfeindlichen Überfall auf einen Deutsch-Afrikaner in Potsdam haben die Behörden noch keine konkreten Hinweise auf die Täter. Es gebe noch keine heiße Spur, sagte Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm gestern. Die Täterstimmen sind seit gestern über Telefon und Internet abrufbar.
Die Sonderermittlungsgruppe der Polizei wurde von zwölf auf 25 Mitglieder aufgestockt. Auch die Bundesanwaltschaft erklärte, bei den Ermittlungen gebe es nichts Neues. Die Behörde hatte das Verfahren wegen des möglichen rechtsextremen Hintergrundes an sich gezogen. Es lägen zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung vor, denen nachgegangen werde.
Unbekannte hatten, wie berichtet, am Ostersonntag in Potsdam einen 37-jährigen, aus Äthiopien stammenden Familienvater überfallen und zusammengeschlagen. Dabei erlitt der Mann schwere Schädel- und Hirnverletzungen. Er lag nach Angaben des Krankenhauses gestern unverändert im künstlichen Koma und schwebte weiter in Lebensgefahr.
Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich nach Angaben von Regierungssprecher Thomas Steg entsetzt über die »abscheuliche, brutale und menschenverachtende Tat«. Die Kanzlerin habe ausdrücklich begrüßt, dass Generalbundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen an sich gezogen habe. Die Bedeutung, die die Regierung dem Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus insbesondere bei Jugendlichen zumesse, werde sich auch in den laufenden Haushaltsberatungen niederschlagen.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sagte, die Gesellschaft müsse klar machen, dass sie solche »fremdenfeindlichen Exzesse« mit aller Entschiedenheit ablehne.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, warf der Regierung vor, die Mittel für Projekte gegen Rechtsextremismus kürzen zu wollen. Nach seiner Darstellung will die Koalition bei gleichbleibender Fördersumme die Förderinhalte um Linksextremismus und Islamismus erweitern. »Dies bedeutet de facto eine einschneidende Mittelkürzung für zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechts«, erklärte Beck.
Der Innenexperte und stellvertretende SPD-Fraktionschef Fritz Rudolf Körper erklärte, SPD und Union hätten sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, die Mittel für die erfolgreichen Bundesprogramme gegen Rassismus und Gewalt zu verstetigen.
Der seit zwei Jahrzehnten in Deutschland lebende Ermyas M. war am frühen Sonntagmorgen an einer Straßenbahnhaltestelle in Potsdam überfallen worden, während er seiner Frau eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterließ. Das Opfer ist mit einer Potsdamerin verheiratet und hat zwei Kinder.
In der Aufzeichnung ist zu hören, wie die Täter ihn als »Nigger« beschimpfen. Die Stimmen der beiden mutmaßlichen Täter sind inzwischen im Internet unter www.internetwache.de und per Telefon abrufbar. Die dafür eingerichtete Telefonnummer lautet: 0331/28353777.
Die Polizei erhofft sich davon weitere Hinweise auf die Täter. Trotz der eindeutig dokumentierten rassistischen Beschimpfung erklärte Schönbohm zum Hintergrund des Überfalls: »Ich weigere mich, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen.« Eine Debatte über höhere Strafen für Gewalttäter lehnte er ab. Die Gewaltbereitschaft sei nach wie vor hoch und häufig ausländerfeindlich oder rassistisch begründet. 75 Prozent dieser Taten passierten spontan und aus Gruppen heraus, 70 Prozent unter Alkoholeinfluss: »Dieser Dinge kann ich mit einem höheren Strafmaß nicht Herr werden«, sagte der CDU-Politiker.
Der Verein »Brandenburg gegen Rechts!« warb um Spenden für die Familie des Wasserbau-Ingenieurs, der in Potsdam an seiner Doktorarbeit schrieb und auch kulturell engagiert war.

Artikel vom 20.04.2006