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Musikalisch
ergreifender
Opfergang Jesu

Oratorienchor spielt Matthäus-Passion

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Chapeau, Oratorienchor - Hut ab, Hartmut Sturm! Von Wiederholungsroutine konnte auch bei der dritten Aufführung der Bachschen Matthäus-Passion innerhalb von nur sechs Jahren keine Rede sein. Vielmehr errang, ja erzwang die Leidensgeschichte Christi in ihrer eindringlichen Klangrede und gefühlsintensiven Aufbereitung die volle Aufmerksamkeit und Bewunderung des am Ende stürmisch applaudierenden Auditoriums.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein Publikum über die Dauer von mehr als drei Stunden (Pause inbegriffen) gebannt die Ohren spitzt und den (musikalisch ungekürzten) Opfergang Jesu mal schaurig berührt, mal wie elektrisiert miterlebt. Eine Reihe glücklich aufeinandertreffender Faktoren trug am Karfreitag in der sehr gut besuchten Oetkerhalle zur Empfänglichkeit der Gefühl und Phantasie ansprechenden Musik bei.
Der erfahrene Kirchenmusiker Sturm hat das Werk offenbar noch einmal einer Analyse unterzogen, die dem bühnendramatischen Charakter minutiös Rechnung trägt, die zu einer stringenten Inszenierung führt -Ê etwa bei Verrat und Gefangennahme -Ê und Anrührung wie Betroffenheit je ihren Wirkungsraum schenkt.
Beim Chor, der, obgleich um etliche junge Stimmen bereichert, das Podium betritt, sitzt der Notentext dank gehäufter Frequenz jetzt erst recht. Hochmotiviert spinnen die Sänger ihre Intrigen, schlüpfen stets makellos und auf den Punkt genau in die Rolle des hetzenden Volkes, fordern grell aufschreiend »Barrabas« und sind in den vereinigten Chorälen zu bildhaft rhetorischer Ausschmückung wie zur Versenkung fähig.
Und kaum einmal aus der konzentrierten Spannung zu bringen. Es war wohl die dramatische, von Nebengeräuschen begleitete Unpässlichkeit einer Konzertbesucherin (der es in der Pause schon wieder besser ging), die in der groß angelegten Choralfantasie »O Mensch, bewein dein Sünde groß« zu nachlassender Genauigkeit führte -Ê verständlich.
Die halbe Miete war sicher eingefahren, und ein vollendet aufspielendes philharmonisches Orchester sowie jung aufstrebende wie auch gestandene Gesangssolisten erledigten den Rest. Wann hört man schon einmal einen Christus wie Andreas Wolf, der mit noblem Bass-Schmelz (Tendenz zum Bariton) dem Zuhörer einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagt, der das Traurig-Kreatürliche ebenso ausdrucksvoll und natürlich rüberbringt wie die prophetische Unbeirrbarkeit! Oder einen Evangelisten wie Victor Schiering, der hell-leuchtendes Tenortimbre einbrachte und seinen Part auf erfrischend unverkrampfte Weise dramatisch, einfühlsam und melodiös auskleidete.
Dazu gesellten sich ein ausgemachter Belcanto-Tenor (Dirk Mestmacher), ein tiefgrundig kraftvoller wie einfühlsamer Bass (Franz Gerihsen), eine wohltimbrierte, mitfühlend ausdeutende Altistin (Yvi Jänicke) und eine anrührend leuchtende Sopranistin (Traudl Schmaderer).
Gestützt und kongenial umspielt wurden sie alle von profunden Solisten im Orchester, von zwei bewegt und pointiert aufspielenden Continuo-Gruppen, von einem ausgewiesenen Experten für Alte Musik und einer an dieser Stelle pars pro toto namentlich erwähnten Eva Dörrenburg, die kurzfristig für den erkrankten René Henriot eingesprungen war und die »Erbarme dich«-Arie mit berührendem Primgeigen-Glanz adelte.
Respekt und Anerkennung gebührt allen Beteiligten, die ihr Publikum mit dem Gefühl entließen, an einer großen Sache partizipiert zu haben.

Artikel vom 18.04.2006