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Tauber Nico: Streit um Kosten der OP

Experten wollen beide Ohren operieren - Krankenkasse will nur einen Eingriff bezahlen

Von Christian Althoff
Paderborn (WB). Wenn Daniela Hill (24) ihren Sohn Nico abends ins Bett bringt, geht das ganz kurz und schmerzlos, wie sie sagt. »Ich kann Nico keine Gutenachtgeschichte vorlesen, weil er taub ist.« Daniela Hill und ihr Mann Daniel (28) hoffen, dass eine aufwendige Operation ihrem Kind zu einem normalen Leben verhilft, doch sie streiten derzeit noch mit der AOK um die Kostenübernahme.
Daniela Hill mit ihrem 14 Monate alten Sohn Nico: Wegen eines genetischen Defekts ist der blonde Junge von Geburt an auf beiden Ohren taub. Helfen soll ihm eine OP, die im Juni stattfinden wird. Foto: Althoff
So funktioniert das Implantat: Der Empfänger (1) fängt den Schall mit einem Mikrofon auf und leitet ihn über ein Kabel (2) an den Sender (3). Der erreicht durch die Kopfhaut hindurch den zweiten Empfänger, der die Impulse über eine Elektrode (4) in die Schnecke (5) führt.
Prof. Dr. Thomas Lenarz rät dringend, beide Ohren zu operieren.
Nico war im Januar 2005 zur Welt gekommen. »Der Verdacht, dass er nicht richtig hört, ergab sich schon nach kurzer Zeit, aber das Ausmaß des Schadens konnten die Ärzte zunächst nicht einschätzen«, erzählt die Mutter. Klarheit hatten die Eltern erst, nachdem Nico mit einem Jahr in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) unter Narkose mehrere Stunden untersucht worden war. »Da wussten wir, dass unser Junge taub ist - offenbar aufgrund eines genetischen Defektes.«
In einem Alter, in dem andere Kinder Mama und Papa sagen, benutzt Nico seine ausgestreckten Arme, um zu zeigen, zu wem er möchte. »Ohne Gehör ist es Nico unmöglich, sprechen zu lernen.« Wenn Daniela Hill morgens die Wohnung aufräumt, folgt ihr der Junge von Raum zu Raum, um Gewissheit zu haben, dass seine Mutter noch da ist. »Denn er hört mich ja nicht«, sagt die 24-Jährige, die jeden Freitag mit dem Jungen in eine Krabbelgruppe geht. »Er hält sich meist im Hintergrund, aber er schaut seinen Altersgenossen viel ab«, sagt die Mutter.
Ihre Hoffnung setzen die Eltern nun in eine Operation, die am 14. Juni in der MHH stattfinden wird und bei der Ärzte dem Kind ein sogenanntes Cochlea-Implantat einpflanzen werden. Dabei wird eine Vertiefung in Größe einer Knopfzellenbatterie in die Schädeldecke gefräst, in die ein kleiner Empfänger eingesetzt wird. Von ihm wird eine Elektrode in die Hörschnecke (lateinisch Cochlea) geschoben. Die Kopfhaut über dem metallenen Empfänger wird wieder verschlossen. Ein kleines Mikrofon, das am Ohr getragen wird, fängt den Schall auf, wandelt ihn in elektrische Impulse um und leitet diese zu einer magnetischen Spule, die auf der Kopfhaut über dem implantierten Empfänger Halt findet. 60 000 Euro kostet diese komplizierte Operation pro Ohr - und die AOK will entgegen dem Rat der Ärzte nur ein Ohr versorgen. »Eine gute Sprachentwicklung ist auch mit nur einem Ohr möglich«, schrieb die Krankenkasse den Eltern mit Hinweis auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes.
Prof. Dr. Thomas Lenarz leitet an der MHH das weltweit größte Zentrum für Cochlea-Implantationen. Er hält es für unbedingt notwenig, dass beide Ohren des Jungen versorgt werden: »In unruhiger Umgebung, wie etwa im Kindergarten oder im Klassenraum, hat ein Kind mit nur einem Implantat erhebliche Schwierigkeiten, Sprache zu erlernen oder sich zu orientieren.« Zudem würden die Hörnerven des Jungen auf der unversorgten Seite bis zum sechsten Lebensjahr verkümmern, wenn sie nicht gereizt würden. »Egal, welche Fortschritte die Medizin in den kommenden Jahrzehnten macht: Dieses Ohr ist dann für immer verloren.«
Prof. Lenarz, in dessen Zentrum seit 1984 bereits 3000 Patienten versorgt worden ist, nennt die Cochlea-Versorgung gerade für Kinder einen Segen. »Man glaubt gar nicht, was diese Geräte leisten können. Wir haben zum Beispiel ein taubes Mädchen aus Bayern versorgt, und als es nach einem Jahr zur Kontrolle kam, sprach es mich auf bayerisch an. Die Mutter bat das Mädchen, hochdeutsch zu reden, was das Kind auch tat. Die Cochlea-Implantate hatten dem Mädchen also keineswegs nur ein grobes Verstehen von Sprache ermöglicht.«
Die gelegentliche Weigerung von Krankenkassen, beide Geräte zu bezahlen, bezeichnet der HNO-Arzt als ungerecht: »Unsere Erfahrung zeigt nämlich, dass es keine einheitliche Linie gibt. In jeder Krankenkasse gibt es Sachbearbeiter, die zwei Implantate genehmigen, und Sachbearbeiter, die das ablehnen. Es gleicht einer Lotterie, wie gut Gehörlose versorgt werden.«
Daniela Hill und ihr Mann haben inzwischen überlegt, einen Kredit aufzunehmen, um ihrem Sohn beide Implantate zu ermöglichen. »Doch davon haben uns die Ärzte in Hannover dringend abgeraten«, berichtet die Mutter. Denn dann müssten die Eltern auch für alle möglichen Folgeoperationen oder Reparaturkosten aufkommen, die sich im Laufe von Nicos Leben ergeben können.
Gegen den ablehnenden Bescheid der AOK Paderborn hat Rechtsanwalt Horst Selker im Auftrag der Eltern Widerspruch eingelegt. »Wir werden im Notfall auch vor dem Sozialgericht klagen. Aber das Problem ist, dass uns angesichts des OP-Termins im Juni die Zeit davonläuft«, sagt der Anwalt. Er verweist auf ein rechtskräftiges Urteil, mit dem das Landessozialgericht in Essen unter dem Aktenzeichen L 16KR 40/05 einem Beamten zwei Cochlea-Implantate zugesprochen hat. »In der Urteilsbegründung heißt es sinngemäß, dem Patienten stehe ein dem Stand der Medizintechnik entsprechender Behinderungsausgleich zu, und dieser werde nunmal mit nur einem Implantat nicht erreicht.«
Daniela Hill hofft, dass der Familie ein Prozess erspart bleibt: »Vielleicht hat die Krankenkasse ja doch noch ein Einsehen. . .«

Artikel vom 14.04.2006