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Italien: 82 000 Stimmzettel
müssen nachgezählt werden

Berlusconi spricht von Wahlbetrug - Präsident Ciampi empfing Prodi

Rom (dpa). Weiter Spannung in Italien: Zwei Tage nach Schließung der Wahllokale hat das Innenministerium die Prüfung von 82 000 Stimmzetteln angeordnet. Dabei soll geklärt werden, ob diese tatsächlich ungültig sind oder einem der beiden politischen Lager zuerkannt werden müssen.
Romano Prodi wird umringt von Journalisten, als er gestern in Rom sein Büro verlässt. Prodi sagte, er befürchte kein Drehen des Ergebnisses. »Das ist ein sauberer Sieg«, ergänzte er. Foto: Reuters
Will die Wahlniederlage immer noch nicht wahrhaben: Silvio Berlusconi.

Italienische Medien sprachen gestern von der letzten Hoffnung für Ministerpräsident Silvio Berlusconi, durch die Nachzählung zumindest in der Abgeordnetenkammer doch noch eine Mehrheit zu erringen. Unterdessen empfing Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi den zum Wahlsieger erklärten Oppositionsführer Romano Prodi. Ciampi machte deutlich, dass sich Italien auf eine längere Übergangszeit bis zu einer neuen Regierung einrichten muss.
»Das ist ein echter Nervenkrieg«, kommentierte das staatliche italienische Fernsehen den anhaltenden Streit. 43 000 der zu überprüfenden Stimmzettel seien für das Abgeordnetenhaus, 39 000 für den Senat, heißt es. Vor allem die Stimmzettel für die Kammer könnten entscheidend sein: Prodis Mitte-Links-Bündnis errang dort nur 25 000 Stimmen mehr als das Mitte-Rechts-Bündnis Berlusconis. Berlusconi hatte bereits zuvor erklärt, »niemand kann behaupten, er habe gewonnen«.
Dagegen dürfte der Fund von mehr als 500 Wahlzetteln auf den Straßen Roms keine Bedeutung haben: Die Stimmzettel seien gültig und auch gezählt worden, teilten die Behörden mit. Passanten hatten sie in mehreren kleinen Kisten verpackt in der Nähe einer Mülltonne entdeckt.
Gestern Abend erklärte Berlusconi, das Wahlergebnis sei durch Betrug zustande gekommen. Er sei zuversichtlich, dass sich das Ergebnis noch ändern wird, sagte Berlusconi nach einem Gespräch mit Staatspräsident Ciampi. »Es gibt so viel Neuigkeiten, so viel Machenschaften, ich bin zuversichtlich, dass sich das Ergebnis ändern muss«, sagte Berlusconi. Auf Einzelheiten ging er nicht ein.
Unterdessen trafen erste Glückwünsche bei Prodi ein: Unter anderem gratulierte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac sowie der designierte SPD-Vorsitzende Kurt Beck. Bundeskanzlerin Angela Merkel drückte die Hoffnung aus auf eine baldige »stabile und handlungsfähige« neue Regierung in Rom. Sie vermied aber, Prodi als Wahlsieger zu bezeichnen.
Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlaments, Elmar Brok (Bielefeld), der gestern mit Prodi telefonierte, ist überzeugt, dass der frühere EU-Kommissionspräsident in Europa wieder eine aktivere Rolle spielen wird. »Prodi hat auf seinem Handy immer noch die Europahymne als Klingelton drauf«, erklärte Brok gegenüber dieser Zeitung. Sorgen bereitet dem CDU-Politiker die äußerst knappe Mehrheit Prodis im Senat. »Ich hoffe, sie ist stark genug, um die notwendigen inneren Reformen durchzusetzen.«
Prodi rechnet mit einer abgespeckten Version des bei zwei Referenden abgelehnten Verfassungsentwurfs der Europäischen Union. Auf die Frage, ob die Verfassung gestorben sei, sagte er: »Nein, sie ist nicht tot.
Prodi machte gestern klar, dass er schon über eine Regierungsbildung nachdenke. Berlusconis Vorschlag einer großen Koalition lehnte er erneut ab. Als Kandidat für das Außenministerium wird der frühere Bürgermeister von Rom, Francesco Rutelli, gehandelt. Als Wirtschaftsminister ist der Vorsitzende der Linksdemokraten, Piero Fassino, im Gespräch.
Prodi sprach etwa eine Stunde mit Ciampi. »Wir haben die aktuelle Lage analysiert und über alles gesprochen, was in den nächsten Wochen auf uns zukommt«, sagte Prodi. Ciampi deutete an, dass erst sein Mitte Mai zu wählender Nachfolger den Auftrag zur Bildung der 61. italienischen Nachkriegsregierung erteilen wird. Die Wahl des neuen Staatspräsidenten ist für den 13. Mai geplant. Als einer der Kandidaten wird der ehemalige Ministerpräsident Giuliano Amato genannt.
Der neue Ministerpräsident muss sich dann in beiden Parlamentskammern einer Vertrauensabstimmung stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfte Berlusconi als amtierender Ministerpräsident regieren. Am 28. April tritt erstmals das neu gewählte Parlament zusammen.
S. 4: Kommentar

Artikel vom 13.04.2006