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Sport als neue Droge
Kein Gefühl
mehr für das
richtige Maß


Von Daniela Rahn
Wir wollen gesund sein, leistungsfähig und möglichst lange »jugendlich frisch«. Schon lange wissen wir nicht mehr, wie eine ordentliche Scheibe Paderborner Landbrot mit lippischer Leberwurst schmeckt. Denn wir haben im Supermarkt längst die 0,2-Prozent-Fett-Produkte für uns entdeckt und abonniert. Jedes Stück Schokolade wird zum Gewissensbiss, jede geknabberte Salzstange zum Corpus delicti schwächelnder Disziplin.
Ist es da wirklich ein Wunder, dass die moderne Gesellschaft neben Alkohol-, Nikotin- und Drogensüchtigen seit einiger Zeit auch Sportsüchtige kennt? Gemeint sind damit keineswegs Menschen, die sich regelmäßig bewegen, um fit zu bleiben. Sportsüchtige, das sind Menschen, die Sport dauerhaft im Übermaß betreiben, weil aus der anfänglichen Lust an der Bewegung ein Zwang geworden ist. Ein Kick, der durch das Freisetzen körpereigener Glückshormone ausgelöst wird -Ê und andauernd wieder neu erlebt werden muss. Dabei ist es den Betroffenen egal, ob der eigene Körper leidet. Schmerzen werden ignoriert, Unpässlichkeiten in Kauf genommen.
Blickt man hinter die Kulissen, offenbart sich häufig ein gefährliches Gemisch: Der Wunsch nach der perfekten Figur einerseits ist oftmals gepaart mit Problemen, die die Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld erleben. Das können ebenso berufliche wie private Sorgen sein, vor denen sie kapitulieren und ihre Ersatzbefriedigung in übermäßiger sportlicher Betätigung suchen. Diese Menschen haben das gesunde Gespür für die »goldene Mitte« verloren.
Nur beim Sport können sie alle Grenzen sprengen, sämtliche Leistungsstufen erklimmen, wenn sie nur genug trainieren, aktiv sind, glücklich, leistungsfähig - und am Ende auch noch schön.
Na ja, mag sich mancher denken: lieber sportsüchtig sein als dem Alkohol zu frönen. Stimmt nicht ganz. Denn auch die dauernde Überdosis Sport kann massive körperliche Schäden verursachen. Abseits von Gelenk- und Knochenschädigungen können speziell Frauen extreme Hormonstörungen davontragen. Mit allen Folgen, die wiederum daraus resultieren.
Wie bei jeder Sucht ist sich der Süchtige seiner Lage nicht wirklich bewusst und hat häufig keinen Überblick mehr, wie sehr er seinem Körper und auch seiner Seele mit dem dauernden Hochleistungszwang schadet. Gefragt sind hier Menschen im direkten Umfeld - Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Die nicht einfach mit ansehen, wie Betroffene unter dem Deckmäntelchen der Fitness keine andere Freizeitbeschäftigung mehr dulden als den Sport.
Sie sollten aufmerksam sein, körperlich bedenkliche Veränderungen und soziale Isolation nicht einfach schweigend hinnehmen. Sondern Betroffene behutsam zur Seite nehmen, offen mit ihnen reden und ihnen so die Chance eröffnen, aus dem Teufelskreis auszubrechen, die »goldene Mitte« wiederzufinden.

Artikel vom 12.05.2006