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Immer wieder lockt der »Kick«

Auch wenn es schmerzt: Sportsüchtige ignorieren jegliche Warnsignale ihres Körpers

Von Daniela Rahn
Bielefeld (WB). Sucht - dabei denken wir an Alkohol und Nikotin, an harte Drogen. Vielleicht auch an Spiel- oder Magersucht. Doch die moderne Gesellschaft kennt inzwischen eine neue Droge: Sport.

Wie kann das sein? Wird uns nicht seit Jahrzehnten gepredigt, Sport sei gesund und Bewegung unerlässlich für das körperliche und seelische Wohlbefinden? Stimmt. Doch es gibt Menschen, die haben die fließende Grenze von gesund zu gefährlich überschritten, ohne es bemerkt zu haben. Plötzlich dreht sich das ganze Leben in erster Linie um den Sport. Ein Wohlgefühl stellt sich nur noch ein, wenn mehrmals pro Woche stundenlang und diszipliniert trainiert wird. Dabei spielt es irgendwann keine Rolle mehr, ob der Körper vielleicht gerade wegen einer Erkältung geschwächt ist oder der Oberschenkel wegen einer Zerrung schmerzt. Der Kopf will Sport - also muss der Körper sich fügen.
Für Mareike ist die Nacht morgens um fünf Uhr zu Ende. Dann zieht sie sich ihre Laufschuhe an und joggt mindestens eine Stunde lang, häufig auch länger. Egal, ob es regnet, stürmt oder schneit. Erst, wenn sie völlig erledigt wieder die Haustür hinter sich ins Schloss fallen lässt, ist sie zufrieden: »Nur so fühle ich mich frisch für den Tag«, sagt die 35-Jährige und meint eigentlich, dass sie ohne diesen Kick am Morgen nicht mehr existieren kann.
Ihre Kollegen, die ihr zu Anfang noch Bewunderung für die eiserne Disziplin zollten, machen sich inzwischen Sorgen um Mareike. Der Körper der einst schlanken, aber doch weiblichen Frau ist dürr geworden und sehnig, am Dekolleté stechen die Knochen heraus, und ihre Oberarme sind eigentlich nur noch dünne Ärmchen. Aber Mareike wiegelt ab, sieht ihr eigenes Spiegelbild offenbar in einem ganz anderen Licht: »Ich bin halt sehr sportlich und brauche die tägliche Bewegung. Sonst kriege ich schlechte Laune.«
Dass ihre sozialen Kontakte außerhalb des Arbeitsplatzes auf ein Minimum zusammengeschrumpft sind, hat sie anfangs zwar gestört, inzwischen jedoch akzeptiert. Warum? Für abendliche Treffen ist keine Zeit. Wer morgens um fünf Uhr aufstehen und fit sein will, muss sehr früh ins Bett gehen.
Eine ähnliche »Karriere« hat Kerstin hinter sich. Als sich die 28-Jährige vor zwei Jahren im Fitness-Studio anmeldete, wollte sie eigentlich »nur« ein bisschen gesunden Ausgleich zu ihrer hauptsächlich sitzenden Bürotätigkeit.
Das Angebot war reichhaltig: Body Shape, Aqua Jogging, Step-Aerobic, Gerätetraining, Laufband. Kerstin probierte sich anfangs nicht nur durch das vielfältige Angebot, sondern machte es fortan viermal wöchentlich zur »Kür«. Vier Stunden Fitness pro Abend, die freigewordenen Endorphine im Körper spüren, sich glücklich fühlen, etwas geleistet zu haben. Das war für Kerstin der ultimative Kick. Dass dabei das Fitness-Studio ihr neues Zuhause geworden war, störte die junge Frau zunächst gar nicht. Sie war mittendrin im Sog der sportlichen Verausgabung und ignorierte jegliche Warnsignale ihres Körpers.
Schmerzende Knie und Gelenkschmerzen zwangen sie schließlich zum Arzt - und kurz darauf zum Aufhören. »Wenn Sie so weitermachen, brauchen Sie in spätestens einem Jahr künstliche Kniegelenke«, prognostizierte der Orthopäde.
In eine Sportsucht hineinzugeraten ist in Zeiten des Schönheits- und Jugendwahns kein wirkliches Kunststück. Zu sehen, wie sich der Körper durch entsprechende Leistung und Disziplin dem vermeintlichen Idealbild annähert, ist eine große Verlockung. Doch das Schönheitsideal allein ist nach Meinung von Psychologen nicht der einzige Grund. Häufig haben diese Menschen ein Problem in ihrem sozialen Gefüge - beruflich oder privat. Probleme, die sie aus eigener Kraft nicht lösen können. Und dann kommt der Sport und gibt ihnen das Gefühl, die Kontrolle wieder zu bekommen und endlich wieder bestimmen zu dürfen, wo es lang geht.
Andreas Wilser, Psychotherapeut in Bielefeld, kennt noch andere Gründe: »Da wir heutzutage mit Reizen regelrecht überflutet werden, gibt es bei vielen Menschen eine verstärkte Suche nach dem noch intensiveren Reiz, dem Kick, der dann die Endorphine zum Ausschütten bringt«. Auch eine Magersucht kann als Ursache hinter einer Sportsucht stecken, weiß der Experte.
Der Verlust sozialer Kontakte und das Malträtieren der Knochen und Gelenke sind nicht alle Nebenwirkungen der Sportsucht. Speziell Frauen können ihrem Körper mit der ständigen Überdosis Sport sehr schaden. Sinkt nämlich der Körperfettanteil unter ein bestimmtes Niveau, verlieren sie irgendwann kein Fett mehr, sondern auch Muskeln. Das heißt, die Leistungsfähigkeit nimmt ab, sie werden schwächer. Wenn der Hormonhaushalt dadurch zu stark ins Wanken gerät, kann sogar die Regel ausbleiben.
Fazit: Sportliche »Einzelgänger« wie Mareike werden auch zukünftig Gefahr laufen, in eine Sportsucht abzudriften. Wer sich einem Verein anschließt und damit auch einer gewissen Kontrolle unterliegt, hat sicher bessere Chancen, das richtige Maß zu finden -Ê und beizubehalten.
Im Fall von Kerstin hätte sich im Vorfeld ein Vergleich der in Frage kommenden Fitness-Studios gelohnt. Vorzuziehen sind hier ganz sicher Clubs, deren Engagement nicht mit dem Unterschreiben eines Zwei-Jahres-Vertrages endet. Qualitativ gute Fitness-Studios erkennt man daran, dass sie mit ihren Kunden gemeinsam individuelle Trainingspläne ausarbeiten, diese regelmäßig überarbeiten und auch sonst ein waches Auge auf ihre »Schützlinge« haben. Um eingreifen zu können, wenn aus dem gesunden Spaß eine ungesunde Sucht wird.

Artikel vom 12.05.2006