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Das Phänomen Ratzinger

Benedikt XVI. freundete sich sehr schnell mit der neuen Herausforderung an

Von Peer Meinert
Rom (dpa). Noch heute, ein Jahr nach der Papstwahl, geht unter Vatikankennern mitunter eine Frage um: Hatte der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger damals tatsächlich gehofft, dass »der Kelch an ihm vorbeigeht«?

Wollte er damals wirklich lieber nach Bayern zurück, um Bücher zu schreiben, wie er unter Freunden verlauten ließ. Oder war das in Wahrheit ein wenig anders? Lockte das hohe Amt am Ende doch? Schließlich habe sich Benedikt XVI. erstaunlich schnell mit der neuen Herausforderung angefreundet, wie ein Theologe in Rom vermerkt: »Nicht mal mit Anfangsproblemen hatte er zu kämpfen.«
Zum Beispiel die Generalaudienz: Seit einem Jahr tritt der deutsche Pontifex jeden Mittwoch vors Kirchenvolk, meist fährt er mit dem offenen Auto durch das Meer der Gläubigen. Auf dem Petersplatz wehen dann deutsche Fahnen, noch häufiger die bayerische Rautenfahne. Die Stimmung schwankt zwischen Volksfest und Andacht, und wer die Szene beobachtet, kann sich des Eindrucks nicht erwehren: ÝPapa-RatziÜ genießt jede Sekunde.« Statistiken belegten das Unglaubliche: Der Deutsche zieht mehr Gläubige an als sein großer Vorgänger Johannes Paul II. - das hätte wohl niemand erwartet, am wenigsten er selbst. »Phänomen Ratzinger«.
Petersplatz, 19. April, kurz vor sieben Uhr abends. Es dämmert schon, die Römer eilen im Laufschritt zum Vatikan. Beifall brandet auf, das Glaubensvolk rast, da tritt ein schüchtern lächelnder Mann vor die Menge, hebt etwas ruckartig die Hände zum Gruß. »Die Kardinäle haben mich gewählt, einen einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn«. Ein Mann aus »dem Land Luthers« auf dem Papstthron - das gab es seit 500 Jahren nicht mehr.
Was hat er bewegt in diesem ersten Jahr? Hat er der Kirche den Ruck gegeben, auf den sie wartet? »Noch ist die Zeit zu kurz, um zu urteilen«, meinen Vatikanexperten. Es gab den Jugendtag in Köln, vor einer Million Menschen predigt der Papst.
Und dann veröffentlichte der Neue eine erste Enzyklika zum Thema »Deus Caritas est« (Gott ist Liebe), in der der ansonsten so kühle Mann geradezu poetisch wird - und der Macht des Eros sozusagen seine Reverenz erweist. Das alles war erstaunlich, mitunter bewegend - von einer »Ära Ratzinger« zu sprechen, wäre aber noch zu früh.
Eines ist sicher: Ein Medienmann, ein »großer Kommunikator« mit dem Charisma seines Vorgängers ist Benedikt nicht. Nicht zufällig hat er anklingen lassen, er selbst wolle weniger Enzykliken schreiben, wolle weniger reisen, und auch mit öffentlichen Auftritten hält er sich im Vergleich zu Karol Wojtyla spürbar zurück. Die wenigen Kritiker, die sich zu äußern wagen, wenden vorsichtig ein, ob sich Benedikt nicht möglicherweise etwas zu arg zurücknimmt?
Dabei stehen gerade dieses Jahr vier Auslandsreisen an. Als absolutes Highlight des Jahres steigt im September der Besuch in der bayerischen Heimat. Zuvor geht es nach Krakau (des Vorgängers wegen), im Juli nach Spanien und danach nach Istanbul - eine Reise in die islamische Türkei gilt nicht gerade als ein »Spaziergang« für einen Papst. Kritiker, die ihm etwas viel Zurückhaltung nachsagen, vergessen meist etwas sehr Grundsätzliches: Benedikt wird am 16. April 79 Jahre alt - da muss man haushalten mit den Kräften.
Und die »Gretchenfrage«, ob er wirklich nicht Papst werden wollte? Als »Papa Ratzinger« wenige Tage nach der Wahl seine bayerischen Landsleute zur Audienz empfing, ging er das heikle Thema auf seine Weise an: »Als langsam der Gang der Abstimmung erkennen ließ, dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde, war mir ganz schwindelig zumute. Ich hatte geglaubt, mein Lebenswerk getan zu haben. Ich habe mit tiefer Überzeugung zum Herren gesagt: Tu mir dies nicht an!«. Natürlich sagte er das alles mit einem Schmunzeln. Humor hat er, der deutsche Papst - auch das ist eine Botschaft.

Artikel vom 13.04.2006