21.04.2006
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Die Runde stöhnte, die Gesichter verrieten Zeichen von Abscheu. Bel senkte gehässig die Stirn, wild, wie ein Stier kurz vor dem Angriff.
»Ich werde den Fleck rauswaschen«, sagte ich kleinlaut und zog mich Richtung Bad zurück. Der Herr mit dem leuchtend roten Gesicht hing zusammengesackt über dem geschlossenen Klavierdeckel und weinte. Als ich zurückkam, ging ich nicht wieder zu den Schauspielern. Stattdessen stellte ich mich an die Wand, hinter eine Topfpflanze, damit Mutter mich nicht sehen konnte, und nuckelte niedergeschlagen an einem Eiswürfel. Der Abend entwickelte sich zu einem einzigartig niederschmetternden Erlebnis. Wollte denn niemand mit mir sprechen?
Wie als Antwort auf meine Frage fiel im selben Augenblick ein missgebildeter großer Schatten auf mich. »Alles paletti?«
Ich beschränkte mich auf einen stummen Kraftausdruck.
»Und, was spricht die Birne?«, fragte er. »Ist ja wohl noch da unter dem ganzen Zeug, oder?«
»Das hat man mir zumindest glaubwürdig versichert«, sagte ich.
»Hab nämlich grad an was gedacht«, sagte Frank. »Nicht dass es dir am Ende wie Batman geht. Nimmst das ganze Mullzeug runter und siehst dann auf einmal aus wie dieser durchgeknallte Joker.«
»Nein, nein«, sagte ich. »Ich bin guter Dinge, dass das nicht passieren wird.«
Er stupste mir verschwörerisch in die Seite. »Du, da im Krankenhaus, da warÕn doch sicher Õn paar affenscharfe Schwestern unterwegs, oder?«
»Mmm«, sagte ich und wünschte mir einen Schleudersitz, der mich aus diesem Gespräch herauskatapultieren würde. Warum ging er ausgerechnet mir auf den Wecker? Warum befummelte er nicht Bel?
»Tja É wie hat doch mein alter Herr immer gesagt? Gibt nur zwei Sachen im Leben, auf die man sich verlassen kann - den Tod und Krankenschwestern.« Diesem weisen Spruch ließ er einen langen Seufzer folgen, und ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. Mich befiel die beunruhigende Ahnung, dass in seinem monolithischen Innenleben eine tiefe melancholische Saite angeschlagen worden war. Ich überlegte, ob ich mich verdrücken sollte, als er sich den Bauch kratzte und mich beiläufig fragte, ob Bel mal mit mir über ihn gesprochen habe.
»Über dich?« sagte ich. »Mit mir?«
»Ist nicht so wichtig«, sagte er schnell. »Ist bloß so, dass ich sie die letzten Wochen nicht so oft gesehen hab.«
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»Ich frag mich, was los ist«, sagte er verdrießlich. »Immer wenn ich anruf, hat sie irgendwas zu tun, muss irgendwelche Kabel verlegen oder lernt ihre Sätze auswendig oder hat irgend Õne Besprechung. Meistens kommt sie nicht mal ans Telefon.« Ein schwach glänzender Schweißfilm zeigte sich auf seiner Stirn und ein hoffnungslos verlorener Blick in seinen Augen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, ihm einen Hundekeks hinzuwerfen.
»Sie hat halt zu tun«, sagte ich. »Das ist alles. Dieses jämmerliche Theater hält sie auf Trab. Ich bin sicher, dass sie sich bald wieder fängt.«
»Charlie«, flüsterte er. »Was soll das eigentlich, mitten in euer Haus ein Scheißtheater reinzubauen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich knapp. »Ich war im Krankenhaus und das Haus voller Frauen. Da ist alles möglich.« Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen. Er machte mich nervös. Während er redete, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass heute Abend auch zwischen mir und Bel eine gewisse Kühle herrschte. Ein nicht eingeweihter Beobachter hätte meinen können, dass Franks und meine Lage sich ziemlich ähnelten. »Ich werde ein Wörtchen mit ihr wechseln, okay?«, sagte ich zu Frank. »Ich krieg raus, was da los ist. Aber ich bin sicher, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Diese Geschichte mit dem Theater kann nicht lange dauern. Du kennst doch Bel, nach ein paar Wochen wird ihr alles langweilig.«
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Wie sich herausstellte, kam ich nie dazu, dieses Wörtchen mit Bel zu wechseln. All diese unbewachten Flaschen verwirrten mich. Um meine Nerven wieder auf normal zu bringen, verabreichte ich mir gerade einen doppelten Hennessy, als ich einen eisigscharfen Luftzug spürte und eine Stimme hörte, die sagte: »Ah, da bist du ja, Charles.«
Auf einen Zug kippte ich meinen Drink und drehte mich langsam um.
»Ich muss schon sagen, für einen Menschen mit einem derart übersichtlichen Tagesablauf bekommt man dich ziemlich schwer zu fassen.«
»Ha, ha«, sagte ich lahm und hielt Ausschau nach einem Fluchtweg. Ich sah keinen. »Nun, hier bin ich.«
»In der Tat«, sagte Mutter und lächelte ihr stählernes Lächeln.
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Die Quelle dieser Verwandlung war eine mir bis dato unbekannte Wesenheit namens Höhere Macht. Diese Höhere Macht drehte im Cedars anscheinend ein ziemlich großes Rad dergestalt, dass sie vermögende Neurotiker dazu brachte, ihre Laster aufzugeben und ihren Teil der verschiedenen Bürden des Lebens zu schultern. Während Mutter den Null-Alkohol-Ansatz offenbar vernachlässigt hatte, war sie doch äußerst fasziniert von dieser Idee von Pflichterfüllung und dass jeder seinen Teil beizutragen habe. Schon damals war mir klar, dass das definitiv kein gutes Omen war für mich und den Versuch, mein Leben als Landedelmann wieder aufzunehmen.
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»Das war vielleicht ein Abend«, sagte sie und griff an mir vorbei nach dem Sherry. »Ich bin ja so furchtbar stolz auf die Mädchen. Du nicht auch, Charles?«
»Es war schön, Bel mal wieder auf der Bühne zu sehen«, sagte ich. »Sie hat ja schon lange nicht mehr gespielt.«
»Und diese schrecklichen, ganz schrecklichen Rowdys, mit denen sie sich da abgeben musste - wie auf Kohlen bin ich auf meinem Stuhl gesessen. Es war wie eine Reise in eine Art Unterwelt, findest du nicht auch?«
»Mmm«, pflichtete ich mürrisch bei.
»Und diese Mirela - was für eine Entdeckung, Charles! Diese Präsenz! Das Mädchen wird es noch weit bringen. Wenigstens bis zurÉ« Ihr Verstand schien wieder einzusetzen. »Aber sie muss unbedingt etwas wegen dieses schrecklichen É Sie geht wirklich furchtbar langsamÉ«
»Beim Kirowballett kriegt sie keinen Job mehr, das stimmt wohl.«
»Allerdings É man kann es kaum hören, findest du nicht auch? Und wie schön sie ist, so exotisch!« Sie schenkte sich ein Glas ein.
Artikel vom 21.04.2006