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Gerechtigkeit und Wahrheit gefordert

Glatzer Vertriebenen-Transport 1946: Flüchtlings-Elend nicht aus dem Gedächtnis streichen

Von Uwe Koch und
Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). In einer bewegenden Feierstunde hat die Heimatgruppe Grafschaft Glatz einem Vertriebenen-Transport vor 60 Jahren gedacht. Vertreter der Landsmannschaft erinnerten nachhaltig an die Kulturlandschaft Schlesien, mahnten gegen das Vergessen. Die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen dürfe »nicht aus dem Gedächtnis gestrichen werden«.

Es war Sonntag, der 8. April 1946: Um 19 Uhr traf auf dem Bielefelder Bahnhof ein Personenzug mit Menschen ein, die seit der Abfahrt in dem schlesischen Städtchen Glatz fast vier Tage menschlichen Elendes hinter sich gebracht hatten. Unter ihnen war die damals 15-jährige Margarete Fels. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren sieben Geschwistern war das junge Mädchen wie Tausende von Deutschen von der polnischen Miliz in den Wochen zuvor aus den Wohnungen und Häusern getrieben worden. Die Menschen wurden im berüchtigten Glatzer Finanzamt zusammengepfercht, warteten dort in bitterer Kälte und unter viehischen Bedingungen auf den Abtransport.
Wer sich den (völker-) rechtswidrigen Anordnungen der Polen nicht prompt fügte, wurde drangsaliert, misshandelt, erschossen. Wer die Züge zum Abtransport auf dem Glatzer Bahnhof erreichte, durfte lediglich bis zu 20 Kilogramm Handgepäck seines Hab und Gutes mit auf den ungewissen Weg in den Westen nehmen.
»Wir wurden in Bielefeld in der Fröbelschule, der Bückhardtschule in Bunkern und im Dr.-Oetker-Speisesaal untergebracht«, erinnert sich Margarete Fels nach 60 Jahren an ihre Vertreibung aus der Glatzer Heimat. Vier Jahre habe man »zu neunt in zwei Zimmern gelebt, dann ging es auch für uns aufwärts«. Heute ist die 75-Jährige die Vorsitzende der Heimatgruppe Grafschaft Glatz in Bielefeld in der Landsmannschaft Schlesien. Traurig-bewegt erinnerte sich Margarete Fels im Kreis der Glatzer am Sonnabend im Gemeindehaus der Christ-König-Kirchengemeinde an das größte Flüchtlings-Elend im Europa des 20. Jahrhunderts: 15 Millionen Deutsche wurden vertrieben, 2,8 Millionen Menschen fanden den Tod.
»Alle dürfen von Heimat reden«, kritisierte Festredner Peter Großpietsch, stellvertretender Bundesvorsitzender der Schlesier, »tun wir's, sind wir die ewig Gestrigen.« Es verbiete sich, einfach zu Tagesordnung überzugehen. Die Vertriebenen hätten »die Gräber zurückgelassen« und für die Toten sei in Deutschland »immer noch keine Trauerarbeit geleistet« worden. Mit der Schaffung eines einigen Europas einen Schlussstrich unter diese Vergangenheit zu ziehen, das verbiete sich, sagte Großpietsch. Denn: Von welchen Gefühlen würden wohl Ostwestfalen geleitet, wenn sie seinerzeit vertrieben und in Schlesien ihre Heimat gefunden hätten?
Verharmlosung relativiere die Vertreibung, mache sie nicht ungeschehen. Peter Großpietsch: »Das war Landraub im großen Stil, ohne moralische oder politische Berechtigung.« Nach den Plündungeren und Raubzügen der russischen Soldaten »waren auch die Polen Täter«, erinnerte er.
»Nicht Rache war mein Motiv, ich wollte Gerechtigkeit und historische Wahrheit«, habe Nazi-Jäger Simon Wiesenthal einmal gesagt, das gelte auch für die deutschen Vertriebenen, die das Recht der Opfergruppen des Dritten Reiches in Anspruch nähmen. Leidtragende der Vertreibung damals sei die Großelterngeneration gewesen, die alles verloren habe. Kinder und und Enkel, deren Kindheit schlagartig beendet worden sei, seien nun stolz darauf, dieses Gemeinwesen Deutschland mit aufgebaut zu haben. Allein fehle nun im Land »die nationale Betroffenheit, die Solidarität mit den Resten der ostdeutschen Stämme«. - Fehlende Solidarität bemängelte neben Großpietsch auch Manfred Endreß, Vorsitzender der Landsmannschaft der Schlesier, bei der Stadt Bielefeld. Statt des verhinderten Oberbürgermeisters noch nicht einmal einen Vertreter der Kommune zur Feierstunde zu entsenden, sei »eine Enttäuschung«. Brunhilde Wiedemann, die Kreisvorsitzende der Ostdeutschen Landsmannschaften, ermunterte als »Vertreterin der Bekenntnisgeneration« auch die Glatzer der Stadt treu zu bleiben, denn: »Bielefeld braucht Sie auch weiterhin.«



Artikel vom 10.04.2006