08.04.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Lange Versäumtes nachholen,
Grundwerte gehen alle an

Lammerts Leitkultur-Begriff - Bezirks-CDU steigt in Grundsatzdebatte ein

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Die Werte driften ins Beliebige, wer sich festlegt, hat schon verloren: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) rät seiner Partei in der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm dringend Versäumtes nachzuholen.

Mit akzentuierten Bemerkungen zu »Verfassungspatriotismus und Leitkultur« startete die Bezirks-CDU am Freitag in Schloß Holte-Stukenbrock ihre Programmdebatte. »Wir haben eine Riesenchance mit diesem Thema, weil die Menschen Haltepunkte suchen«, sagte Lammert und Bezirkschef Elmar Brok begrüßte die Diskussion, »weil es wichtig ist, dass wir uns in unserem Innern wiederfinden«. Die kommende wahlfreie Zeit gebe ausreichend Gelegenheit, das Grundsätzliche aufzuarbeiten und die eigene Werteorientierung zu überprüfen.
Nicht nur die Kopftuchfrage oder Debatten über Fragebögen zur Erlangung des Daueraufenthaltes, auch Gentechnik, Sterbehilfe und Erziehungsprobleme von ungeahntem Ausmaß, so Wortmeldungen in einer lebhaften Diskussion, steckten den Rahmen ab. Dabei beginnt mit der Eingrenzung des Themas das Problem.
Wer das Wort »Leitkultur« im Munde führe, so Lammert, schaffe für andere Anlass, sich nicht mehr zu beteiligen. Wer einen besseren Begriff kenne, solle ihn vorschlagen, aber nicht abtauchen, sagte Lammert und begründete, worum es ihm wirklich geht: »Kein Gemeinwesen kann bestehen ohne einen Kern an Grundüberzeugungen.« Diese würden aber nicht aus Tagesfragen wie Gesundheitsreform, Steuerpolitik oder sozialer Sicherung hergeleitet, sondern aus der Kultur eines Landes selbst.
»Multikulturalität kann nicht bedeuten, dass in einer Gesellschaft alles gleichzeitig und damit nichts mehr wirklich gilt«, sagte er. Es gebe Situationen, in denen klar entschieden werde müsse, was gelte. Besondere Brisanz findet er an den Schnittstellen zum Islam: So wie hierzulande die Gleichberechtigung der Frau unstrittig sei, leiteten andere Kulturkreise den Anspruch auf die Dominanz des Mannes her. Während auch Christdemokraten auf der Trennung von Staat und Kirche bestünden, erklärten andere ihre Gesetze als gottgegeben. Und der Karikaturenstreit habe ein sehr unterschiedliches Verständnis von der Freiheit der Medien, der Wissenschaft und der Kunst offenbart. Lammert: »Das ist keine Spielwiese mehr für Intellektuelle, der Streit hat eine Reihe von Menschenleben gekostet.«
»Schluss mit lustig«, der über Monate die Verkaufslisten anführende Bestseller von Peter Hahne ist für Lammert Beleg dafür, dass die Menschen nach Orientierung dürsten. Und noch einen Buchtipp hielt er parat: Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger über »Vernunft und Religion«. Der rationale Soziologe erkenne an, dass Grundwerte nur zu erlangen seien, wenn sich selbst Nichtchristen an der Verständigung auf abendländische Orientierung beteiligten. Der strenge Theologe beweise Liberalität, in dem er die Aufklärung gleichberechtigt neben das christliche Menschenbild setze.
Heute stellt Lammert fest, dass in der politischen Debatte »die Bereitschaft, zur eigenen christlich-abendländischen Kultur zu stehen, größer geworden ist«. Bedarf an Leitkultur besteht ohne Frage. In der einsetzenden Erziehungsdebatte seien aber nicht nur abgrenzende, sondern auch positive Hinweise gefragt.
Schließlich fordert Lammert auch ein selbstbewusstes und aufgeklärtes Verhältnis zum eigenen Land. Nicht Verfassungspatriotismus um seiner selbst Willen sei gefragt, sondern weil jede Nation sich in Europa einbringen, aber nicht in ihm aufgehen wolle, sagte Lammert.
Bedauerlicherweise sei die 1982 von der Union angekündigte geistig-moralische Wende in Deutschland nicht vollzogen werden. Lammert glaubt, dass die neue Diskussion eine Chance bietet, auch hier Versäumtes nachzuholen.

Artikel vom 08.04.2006