20.04.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ich wusste, dass du es verstehen würdest«, sagte sie noch einmal. Ein Augenblick der Stille verstrich. Es lag ziemlich klar auf auf der Hand, worauf sie hinauswollte. Die Zeit war reif für meinen Zug. »Da fällt mir ein, dass ich dir auch was sagen wollte. Und zwar über das Stück.«»Ja?« Sie schaute mich an.
»Ja«, sagte ich und streckte die Arme aus, sodass die Handgelenke aus den Ärmeln rutschten. »Und zwar über den einen Punkt, den ich interessant, den ich persönlich ermutigend fand an dem Stück - was es nämlich über die Liebe sagt.«
»Über die Liebe?«, wiederholte sie unsicher.
»Ja, das Stück zeigt, dass die Liebe über alles triumphieren kann, über die É äh É Armut und diese Autodiebstahlsache und das alles.«
»Ah, verstehe«, sagte Mirela. »Ja, aber eine Lovestory, glaube ich, ist das Stück eigentlich nicht.«
»Aber die Liebe zwischen Bels Figur, zum Beispiel, und diesemÉ diesem Burschen mit dem Schnäuzer, also, ich habe das so verstanden, dass É wenn einem also schreckliche Dinge zustoßen, und man ist völlig am Ende, dann gibt es immer noch Hoffnung, weil man genau dann diesen ganz besonderen Menschen trifft, der einem dabei hilft, das alles durchzustehen. Ja, das habe ich für mich aus dem Stück mitgenommen.«
»Ja.« Mirela nickte unbestimmt, während sie auf einen liegen gelassenen Programmzettel schaute, der auf dem Platz neben ihr lag. »Das ist sehr interessant, Charles, obwohl das für uns eigentlich nicht das zentrale Thema war, das wir herausarbeiten wolltenÉ«

S
ie biss nicht an. »So ist das halt mit der Liebe.« Ich blieb hartnäckig. »Sie taucht immer da auf, wo man sie nicht erwartet, auch wenn sie eigentlich nicht das zentrale Thema istÉ«
»Mmm«, sagte sie und drehte sich ganz zu mir um. »Ja, da hast natürlich Recht, absolut. Das Gleiche gilt für Freundschaft, zärtliche Freundschaft, auch die spielt in dem Stück eine wichtige Rolle. Die Art von Freundschaft, die Bel mit ihrem Halbbruder verbindet.«
»Mit welchem?«
»Dem, der in der Frittenbude arbeitet.«
»Ja, das ist echte Freundschaft, stimmt«, sagte ich. »Aber echte Liebe war auch drin, zum Beispiel zwischen dem Junkie und diesem Mädchen, das einfach nicht aufhören kann, bei Marks und Spencer Sachen zu klauenÉ«
»Ja, aber hauptsächlich gehtÕs doch um Freundschaft«, sagte sie heftig. Dann hielt sie inne, und es machte sich eine verlegene Stille breit. Offensichtlich war sie zu sehr beschäftigt mit ihrem großen Abend, als dass sie den wahren Kern meiner Anmerkungen hätte begreifen können. Ach, zum Henker, wie sollte man so delikate Augenblicke auch deichseln ohne die Hilfe eines intakten Gesichts?
Die Stille hielt noch eine Zeit lang an, dann sagte sie ruhig, aus heiterem Himmel: »Hast du Harry kennen gelernt?«
»Was?«
»Harry, er hat das Stück geschrieben. Hast du noch nicht mit ihm gesprochen?«
»Ich habe mit überhaupt niemandem gesprochen«, sagte ich trübselig. »Bel hat gesagt, ich soll mich ja nicht blicken lassen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie mich in den Keller gesperrt.«
»Oh. Also los, dann lernst du ihn eben jetzt kennen«, sagte sie. »Er ist ein netter Bursche, witzig und intelligent. Er wird dir gefallen, da bin ich sicher.«
Vielleicht war es falsch, sofort in die Defensive zu gehen. Aber ein Mann geht nicht über zehn Runden mit Patsy Olé, ohne das eine oder andere über das dunkle Wirken des weiblichen Geistes zu erfahren. Plötzlich kam sie mir viel zu aufgekratzt vor. Konnte es sein, dass ihre Erziehung auf dem Balkan das Protokoll glühender Liebeshändel noch nicht behandelt hatte? Konnte es sein, dass dieser Harry und sein jämmerliches Stück sie so verwirrt hatten, dass sie unsere zarten gemeinsamen Momente im Turm einfach vergessen hatte?
»Kaum«, erlaubte ich mir zu sagen.
»Was?«
»Ich glaube kaum, dass er mir gefällt«, sagte ich. »Dieser Harry.«
Sie brach in lautes Gelächter aus. »Sei nicht albern. Ich bin absolut sicher, dass er dir gefällt. Außerdem kannst du dich nicht die ganze Nacht hier verkriechen.« Ohne mir in die Augen zu schauen, packte sie mich am Handgelenk und zog mich vom Stuhl hoch. Mit jedem Meter, den sie mich durch die Halle zog, steigerte sich meine Untergangsstimmung. Ich kam mir vor wie ein alter Hund, den man zum Tierarzt zerrte.

V
aters Porträt war wieder aufgehängt worden, direkt neben der Tür zum Musikzimmer. Darunter prangte eine Plakette mit der Inschrift Ralph Hythloday Centre for the Arts - als wäre das alles seine Idee gewesen. Sie hatten ihn am Wickel. Kurz trafen sich unsere hoffnungslosen Blicke, dann hatte Mirela mich schon vorbeigezogen. Die Party wartete.
Die Gesellschaft war inzwischen etwas ausgedünnt. Mutter stand gleich neben der Tür mit dem Rücken zu uns und hielt Hof für zwei Schreiberlinge. Der Herr mit dem roten Gesicht war noch etwas röter geworden; er und seine Kumpane standen in einem etwas ausgefransten Halbkreis am Klavier und schmetterten irgendeinen grässlichen Schlager. Hinter ihnen lugte MacGillycuddy in den alten Speisenaufzug.
»Was macht der eigentlich hier?«, sagte ich. »Was soll denn das für ein Theater sein, das einen MacGillycuddy als Berater braucht?«
»Mmm? Oh, er istÉ« Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Tja, das weiß ich eigentlich auch nicht. Irgendwie war er einfach da É Oh, da ist ja Harry!« Sie winkte fröhlich einer Gruppe Schauspielertypen in der Ecke zu. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich erkannte, dass - wie ich schon befürchtet hatte - Harry und der ärgerliche Kerl mit der Avantgardefrisur ein und dieselbe Person waren.
Bel hatte sich an seinem rechten Arm eingehakt, und geschmeidig fädelte sich Mirela links bei ihm ein.
»Nun ja, ich würde Feuer frei! nicht in erster Linie als Theaterstück bezeichnen«, sagte er gerade. »Eher als Ruf zu den Waffen, als eine Art Rebellion. Das gehört in die Luft gejagt, das ganzeÉ«
»Harry, ich möchte dir Charles vorstellenÉ«
Er schaute sich gleichgültig um und lächelte mich nichtssagend an.
»Charles, das ist HarryÉ« Mirela drehte sich wieder zu mir um.
»Wir kennen uns«, sagte ich schroff.
»Ach ja?«, sagte Harry.

O
ja«, sagte ich. Der Groschen war schließlich gefallen. Ich wusste, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Und jetzt war mir auch klar, wie diese finstere Unternehmung ins Rollen gekommen war. Die vorgeblich unterprivilegierten Schauspieler, die jetzt das Musikzimmer verstopften, waren niemand anderes als die Fressalien schnorrenden Marxisten, die mir in Bels Studententagen die Nachmittage vermiest hatten. Und dieser Bursche, der damals noch pinkfarbene Haare gehabt und den Namen Boris getragen hatte, war der Rädelsführer gewesen. Wie oft hatte ich mit anhören müssen, wie er, die Beine auf der Chaiselongue hochgelegt, irgendein blauäugiges Mädchen mit Ideen von Träumen oder Freiheit oder Revolutionen vollquatschte oder wie er Mrs P dazu aufstachelte, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben - namentlich Mutter und mich -, und sich währenddessen mit Trüffeln vollstopfte oder den Nusszopf verschlang, den sich schon jemand anders auf den Teller geladen hatte. »O ja«, sagte ich noch einmal, um ihm klar zu machen, dass ich sein Spiel durchschaut hatte und ihn fortan genau im Auge behalten würde. Die Unterhaltung war jedoch schon weitergezogen, dergestalt, dass es aus den Mädchen heraussprudelte wie aus Zwölfjährigen, die zu viel Brausepulver erwischt hatten, dass sie an seinen Ärmeln zupften und ihn bedrängten, doch mehr von der Rebellion zu erzählen, sodass ich mich schließlich darauf beschränkte, von einem vorbeischwebenden Tablett ein paar Kanapees zu nehmen und diese auf irgendwie bedrohliche Art und Weise aufzuessen.
»Ich sehe das Stück eher als Teil eines Guerillakriegs«, sagte Harry. Aus der Nähe sahen die geflochtenen Zöpfe aus wie wuselnde Schlangen, die sich beim Rumkriechen auf seinem Kopf vergiftet hatten. Er war einer von denen, die beim Sprechen mit den Fingern imaginäre Gänsefüßchen machten - noch ein guter Grund, ihn zu verachten. »Ich nehme eine elitäre Kunstgattung und nutze sie im Wesentlichen als Trojanisches Pferd, aus dem wir dann herausspringen und unser bourgeoises Publikum mit seinen Verbrechen konfrontieren können. Das Stück muss über eine explosive Kraft verfügen, die sozusagen das Gebäude zerstört, in dem es aufgeführt wird É wie eine BombeÉ«
»Moment mal«, warf ich ein. »Ich hoffe, du meinst damit nicht Amaurot, oder?«
»Das ist eine Metapher, du Depp«, sagte Bel grob.
»Wir haben natürlich die Hoffnung, nie zu richtigem Sprengstoff greifen zu müssen«, sagte Harry zu mir.
»Das hoffe ich doch auch«, sagte ich und widmete mich wieder meinen Kanapees. »Man macht keine Witze, wennÕs um die Sprengung von Gebäuden geht. Ich spreche aus Erfahrung.«
»Das Vermächtnis der Postmoderne ist ja wohl«, fuhr Harry fort, »der Kunst die Fähigkeit zu jeglichem sinnvollen Statement abzusprechen - über die Welt als Ganzes wie auch über uns. Meiner Meinung nach müssen wir also zurück zum Theater von Berkoff, von ArtaudÉ«
»Charles, du hast Pastete auf deinem Verband«, sagte Bel.
»Wo?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.04.2006