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Ich meinte an den Sägezahnkurven Dinge ablesen zu können, alle möglichen Dinge: Explosionen, Prophezeiungen, unmittelbar bevorstehende Katastrophen. Immer schneller brachen sie über mich herein, bis ich es nicht mehr ertragen konnte und, gepackt von kaltem Entsetzen, die Notrufklingel drückte, »Hilfe, Hilfe!« schrie, Sekunden später die klackenden, sich schnell nähernden Schritte der Nachtschwester hörte und endlich sah, wie die Tür sich öffnete. Es war nicht die attraktive Dralle, die für die Abreibungen mit dem Schwamm zuständig war, sondern die Thermometergeile ohne Hintern.
»Ja?«, fragte sie barsch. »Was ist los?«
Ich räusperte mich und deutete auf die Spitzen und tiefen Täler auf dem Monitor und sagte: »Ich mache mir ein wenig Sorgen, äh, dassÉ«
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« Sie tappte ungeduldig mit dem Fuß. »Haben Sie Schmerzen?«
»Nun ja, nicht direkt.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, als hätte ich möglicherweise etwas übertrieben. »Es ist nur É diese Spitzen da auf dem Schirm, sehen die nicht ein bisschen, na ja, anders aus?«
»Nein«, sagte sie und stöhnte abweisend. »Die sind absolut normal, genau wie beim letzten Mal und beim vorletzten Mal.«
»Oh. Ich hatte gedacht, sie sind ein bisschen anders.« Einen Augenblick lang herrschte Stille - bis auf das Tappen ihres Fußes. »Viel los?«, sagte ich. Sie hatte zwar ein knochiges Gesicht und war analfixiert, aber immerhin war sie jemand, mit dem ich reden konnte.
»Sehr«, blaffte sie, als hätte sie nur auf die Frage gewartet. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und schoss aus dem Zimmer - zurück zu ihrem Kreuzworträtsel oder ihrer Schale mit Eingeweiden, oder womit auch immer sie beschäftigt war in dem Glaskasten am Ende des Ganges. Und ich war wieder allein mit der stummen Prozession der elektrischen Wellen, mit meinen Gedanken an zu Hause, an die blühenden Bäume und den Ballsaal, wo Gespenster in Frack und gewaltigen Reifröcken sich in Quadrillen und Kotillons drehten, während die Wände vermoderten und Spinnen Netze in die Kronleuchter sponnen.

Jemand stieß die Tür zum Ballsaal auf. »Ach, da bist du. Warum hast du nicht auf mich gewartet?«
»Tut mir Leid, aber ich wusste nicht, dass ich warten sollte.«
»Es ist eiskalt hier.« Mirela rubbelte sich mit den Händen über die nackten Arme. »Was machst du hier unten? Du verpasst die ganze Party.«
»Äh É Nur ein bisschen frische Luft schnappen.«
»Deine Mutter sucht dich.«
»Ich weiß«, sagte ich düster.
Sie setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Mittelgangs. »GehtÕs dir gut? Tut der Kopf weh?«
»Nein, neinÉ« Ich drehte mich zu ihr, schlug die Beine übereinander, hielt das plötzlich für zu weibisch und nahm das Bein wieder herunter. »Na ja, es ist halt das erste Mal, dass ich es so sehe, fertig umgebaut. Verschafft mir wenigstens eine Ausrede dafür, larmoyant zu werden.«
»Larmoyant?«
»Traurig, weinerlich É wenn ich an früher denke, weißt du?«
»Muss ein komisches Gefühl sein, wenn man nach Hause kommt und alles hat sich verändert.«
Ich betrachtete die erhöhte Bühne, die glatten Farbflächen und die vorstehenden Holzbalken, die die moderige Tapete und den Rokokostuck unter der Decke ersetzt hatten. »Das ist schon okay so«, sagte ich großmütig.
»Ich bin froh, dass du rechtzeitig nach Hause kommen konntest, um die erste Vorstellung zu sehen«, sagte sie.
»Mit den Schmerzmitteln im Leib gingÕs schon«, sagte ich.
Sie lachte. »Armer Charles! HatÕs dir denn wenigstens ein klein bisschen gefallen?«
Du hast mir gefallen, wollte ich sagen - auch wenn dir dauernd die Perücke verrutscht ist und du Liebe wie Lippe ausgesprochen hast und das Wort Joyriders klang, als kämen die Burschen direkt aus einem transsylvanischen Bauernschwank, nahm trotzdem, immer wenn du auf der Bühne warst, der knirschende Dialog vorübergehend eine fast melodiöse Qualität an. Aber ich sagte es nicht, ich brummelte nur was von realistischen Kostümen.
»Mmm«, sagte sie und schaute nach unten auf ihre Hände, die sie verschränkt hatte wie jemand, der einen Marienkäfer nach draußen in den Garten bringen will. »Ich muss dir unbedingt was sagen, Charles.«
»Ja?«, sagte ich und räusperte mich.
»Ist nicht ganz einfach.«
»VersuchÕs einfach«, sagte ich. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte mich schon gefragt, ob É Ich meine, was passiert denn im Film, wenn einem Kerl irgendwas Außergewöhnliches zustößt, wenn er fliehen muss oder in die Luft gesprengt wird oder sein Haus von der eigenen Schwester in ein Genossenschaftstheater umgewandelt wird? Na? Er trifft eine wunderschöne Frau, die sich auf der Stelle in ihn verliebt und ihm auf seinem neuen Lebensweg zur Seite steht. Kein Gewese, warum sie sich in ihn verliebt. So läuft das eben. Vielleicht ist es so eine Art Lohn des Schicksals für den Wagemut, das Gleichgewicht des Universums gestört zu haben. Ich war jedenfalls der Meinung, dass mit einem Mädchen wie Mirela an meiner Seite eigentlich nichts schief laufen konnte.

Z
ur Vorbereitung atmete sie noch mal aus, dann sagte sie: »Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass Mama die Sachen gestohlen hat.«
»Ah, ja, sicher.« Ich hüstelte, um meine Enttäuschung zu überspielen. »Ist doch kein Thema, also wirklich. Schwamm drüber, okay?«
»Du musst ja glauben, dass wir alle verrückt sind«, sagte sie leise. Lichtfetzen krochen unter der Tür hindurch und ließen den Flaum auf ihren Armen silbrig glitzern.
»Nein, nein.« Ich beeilte mich, sie zu beruhigen. »Da habe ich schon viel schlimmere Geschichten gehört. Zum Beispiel, dieser Freund von mir, Pongo McGurks, seine Familie, die hatte einen Butler, der hieß Sanderson; Jahre hatten die den, haben immer auf den geschworen, bester Butler, den sie je hatten, und so. Und als sie mal früher aus dem Wochenende zurückkommen, da steht er da, im Hochzeitskleid von Pongos Mutter, und will sich gerade vom Toaster mit der Kuckucksuhr trauen lassen.«
»Oh.« Sie schien sich nicht sicher zu sein, was sie damit anfangen sollte. »Und so was passiert oft?«
»Nein, ich glaube, das ist ziemlich selten«, räumte ich ein. »Ich meine, es ist selten, dass man einen Butler erwischt, der genau Schuhgröße 43 hat.«

D
a hatte ich mich wohl im Ton vergriffen. Mirela runzelte die Stirn und wickelte sich eine Strähne ihres schwarzen Haars um einen Finger. »Vielleicht hab ich es nicht richtig erklärt«, sagte sie. »Ich will nur sagen, dass Mama nicht so ist. Sie ist kein Dieb. Ich hab ihr tausendmal gesagt, warum bestiehlst du diese Leute, die sorgen sich um dich, die helfen uns bestimmt. Aber du musst verstehen, dass es sehr schwer für sie ist, anderen Menschen zu vertrauen, nach allem, was passiert ist. Am Anfang hat sie nur kleine Sachen genommen, was nicht auffällt eben. Als sie dann das mit der Bank hört, kriegt sie die Panik; sie kann nicht mehr schlafen, sie bildet sich ein, sie muss so viel stehlen, dass sie uns alle wieder nach Hause bringen kann. Als ob wir jemals wieder nach Hause könnten.« Sie schnitt eine hämische Grimasse. »Ich will nur sagen, dass sie das nicht getan hat, weil sie verrückt oder schlecht ist. Sie ist einfach eine Frau, der schreckliche Sachen zugestoßen sind.« Unter dem stechenden Blick ihrer glühenden, kobaltblauen Augen kam ich mir vor wie aufgespießt. »Ich will nur, dass du weißt, wir sind eine normale Familie, der ein paar Dinge zugestoßen sind. Verstehst du das?«
»Sicher«, krächzte ich. »Sicher.«
»Ich wusste, dass du es verstehen würdest«, sagte sie ruhig. Sie schaute wieder nach unten auf ihre Hände und sagte dann plötzlich: »Heut Abend auf der Bühne, ist dir da mein Bein aufgefallen?«
»DeinÉ?«
»Mein Bein, Charles. Das muss dir doch aufgefallen sein, und den anderen auch. Ich will nicht, dass du höflich bist, sag einfach, wieÕs war.«
»Mir ist nichts aufgefallen«, sagte ich. »Ehrlich. Vielleicht am Anfang ein bisschen, aber dann nicht mehr.«
»Das war auch was, das Mama mit dem Geld machen wollte«, sagte sie nachdenklich. »Die können heute wahnsinnige Sachen machen. Das sagen alle.«
»Ich findÕs nicht so schlimm«, sagte ich. »Irgendwie passt es zu dir.«
Möglicherweise war das eine unpassende Bemerkung, ich kannte mich nicht aus in Etikette für fehlende Gliedmaßen. Aber sie lachte nur. »Ist doch gut, dass ich jetzt endlich jemanden habe, mit dem ich darüber sprechen kann, wieÕs ist, wenn man in die Luft gesprengt wird«, sagte sie.
»Das ist kein Witz«, sagte ich ernst.
»Danach sieht die Welt nie mehr so aus wie vorher, stimmtÕs?« Sie hörte auf zu lachen. »Man weiß dann nämlich, was einem mal einfach so passieren kann.« Sie senkte den Kopf. Wieder betrachtete ich ihr Gesicht. Was genau war es, was mich daran so faszinierte?
»Ich bin euch wirklich sehr dankbar, Charles, dass ihr uns aufgenommen habt«, sagte sie. »Die meisten Leute wissen gar nicht, was bei uns passiert ist. Die denken, wir wollen bloß betteln.«
»Kein Problem«, sagte ich. Sfumato, so nannten Maler das, wenn Linien verschwimmen oder weggelassen werden, so wie es Leonardo da Vinci gemacht hat, um bei seiner Mona Lisa diesen verführerisch fließenden Eindruck zu erzeugen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.04.2006